Eine junge Studentin geht mit ihrem Date auf eine Party im Haus einer Studentenverbindung. Dort wird sie von sieben Männern vergewaltigt, während der Mann, mit dem sie ausgegangen war, zusieht. Die Gruppenvergewaltigung ist Teil des Initiationsrituals, das neue Mitglieder der Verbindung durchlaufen müssen.
Unter der Überschrift «A Rape on Campus» («Eine Vergewaltigung auf dem Campus») veröffentlichte die Zeitschrift «Rolling Stone» im vergangenen November diese Version einer jungen Frau, die nur «Jackie» genannt wird, eine Abkürzung ihres tatsächlichen Namens. Der Artikel, geschrieben von Sabrina Rubin Erdely, stützte sich im Wesentlichen auf Jackies Angaben über den Abend im September 2012 an der Universität von Virginia in Charlottesville.
Rolling Stone journalist who wrote UVA "A Rape on Campus" story to apologize: report. http://t.co/AjmT7kMmGF pic.twitter.com/b1HY0UYEfB
— New York Daily News (@NYDailyNews) 5. April 2015
Die Publikation löste in den USA Proteste und eine landesweite Debatte über sexuelle Übergriffe an Universitäten aus. Es wurde das Bild einer Hochschule gezeichnet, in der es eine versteckte Kultur sexueller Gewalt gibt – und die im Zweifelsfall lieber wegschaut.
Das Problem ist nur: Der «Rolling Stone» weiss nicht, ob das zentrale Ereignis der Geschichte – die Vergewaltigung – tatsächlich geschehen ist. Die Zeitschrift hat den Artikel nun komplett zurückgezogen und um Verzeihung gebeten. Man entschuldige sich bei den Lesern und allen Betroffenen, schrieb «Rolling Stone»-Chef Will Dana – der Studentenverbindung, der Universität von Virginia und den Studenten der Hochschule.
Autorin Erdely schrieb, sie sei «nicht weit genug gegangen», um die Richtigkeit von Jackies Geschichte zu verifizieren. Man sei der Frau zu weit in ihrem Wunsch entgegengekommen, andere Quellen nicht zu kontaktieren.
Zweifel an der Geschichte waren schon kurz nach der Veröffentlichung aufgekommen, etwa durch Artikel in der Washington Post. Die Zeitung dokumentierte, dass der «Rolling Stone» nie mit drei Freunden Jackies gesprochen hatte, dass deren Zitate Jackies Erinnerung entstammten – und dass die Freunde Jackies Version der Ereignisse in Zweifel zogen. Die Studentenverbindung teilte zudem mit, am Tag der angeblichen Vergewaltigung habe es im Verbindungshaus gar keine Party gegeben.
Angesichts offenkundiger Ungereimtheiten entschuldigte sich der «Rolling Stone» schon am 5. Dezember. Die Zeitschrift bat die renommierte Journalismus-Fakultät der Columbia-Universität um eine unabhängige Prüfung des gesamten Textes.
Der Bericht – mit rund 13'000 Worten länger als der ursprüngliche Artikel – liegt nun vor. Er bezeichnet «A Rape on Campus» als «vermeidbares journalistisches Versagen». Der «Rolling Stone» habe sich zu sehr auf Jackies Angaben verlassen und nicht hartnäckig genug versucht, den Mann zu finden, mit dem sie ausgegangen war. Im Artikel wird er «Drew» genannt. Laut dem Columbia-Report wusste der «Rolling Stone» weder den echten Namen des Mannes – noch konnte die Zeitschrift sicher sein, dass er überhaupt existierte. Es wurde zudem nicht versucht, Jackies drei Freunde zu kontaktieren oder die sieben Männer, die der Vergewaltigung beschuldigt wurden.
Rolling Stone’s better judgment was overwhelmed by its hunger for scoops http://t.co/GhzRux9ZDv pic.twitter.com/fYKwqm3mph
— The New York Times (@nytimes) 6. April 2015
Viermonatige Ermittlungen der Polizei ergaben keine Anzeichen dafür, dass Jackie vergewaltigt wurde. Die junge Frau kooperierte nicht mit der Polizei. Der Polizeichef von Charlottesville, Timothy Longo, sagte bei einer Pressekonferenz (siehe Video), es könne dennoch sein, «dass Jackie 2012 etwas Furchtbares widerfahren ist».
Damit sprach Longo ein Thema an, das über den Fall Jackie hinausgeht. «Das Versagen des Magazins könnte die Vorstellung verbreitet haben, dass Frauen Vergewaltigungsvorwürfe erfinden», heisst es in dem Columbia-Report. Wissenschaftler gingen davon aus, dass etwa zwei bis acht Prozent aller Vergewaltigungsvorwürfe falsch seien.
Im Columbia-Report heisst es, ob Jackie angegriffen worden sei und falls ja, von wem, lasse sich aufgrund der vorliegenden Informationen nicht sagen.
Der Guardian schreibt, nur weil Jackie möglicherweise über manche Aspekte gelogen habe, bedeute das nicht, dass auch die Vergewaltigung erfunden sei. Die Zeitung beruft sich auf eine Studie, wonach Opfer sexueller Gewalt Teile des Vorfalls weglassen, übertreiben oder erfinden – aus Scham oder Sorge, man werde die Geschichte sonst nicht glauben oder womöglich dem Opfer Schuld geben.
Auch der «Rolling Stone» ist sich darüber im Klaren, dass die Zurückziehung des Jackie-Artikels verheerende Folgen haben könnte: Es könnten unangebrachte Zweifel an künftigen Vergewaltigungsvorwürfen gesät werden und Opfer sexueller Übergriffe noch stärker zögern, zur Polizei oder Hochschulleitung zu gehen.
«Sexuelle Gewalt ist ein ernstes Problem auf Uni-Campussen», schreibt die Zeitschrift. Es sei wichtig, dass Vergewaltigungsopfer bedenkenlos ihre Geschichte erzählen könnten. «Es macht uns betroffen, dass ihre Bereitschaft, dies zu tun, durch unser Versagen geschmälert werden könnte.»
Die Studentenverbindung Phi Kappa Psi, in deren Haus die Vergewaltigung laut Jackie stattgefunden haben soll, prüft juristische Schritte gegen den «Rolling Stone». Das Leben der Mitglieder sei für ein Semester komplett zerstört worden. In einer Mitteilung hiess es, man könne sich zudem kaum vorstellen, was für ein Rückschlag der Artikel für Opfer sexuellen Missbrauchs sei.
ICYMI: Really important reading on what went wrong with Rolling Stone's 'A Rape on Campus' http://t.co/jUh4VOx1c0 pic.twitter.com/nGHMGimSLP
— Scott Campbell (@scottcampbell) 6. April 2015
Uni-Präsidentin Teresa Sullivan teilte mit, der «Rolling Stone» habe den Ruf vieler Unschuldiger beschädigt. Die Hochschule sei fälschlicherweise als gleichgültig gegenüber Opfern sexueller Übergriffe dargestellt worden – das verstärke deren Zögern, sich der Hochschule oder den Behörden anzuvertrauen.
Schon vor der Veröffentlichung des fehlerhaften Artikels stand die Universität von Virginia – eine der renommiertesten öffentlichen Hochschulen der USA – gemeinsam mit 54 anderen Institutionen auf einer Liste des Bildungsministeriums. Die Hochschulen wurden wegen ihres Umgangs mit Hinweisen auf sexuelle Übergriffe überprüft.
(ulz/ap/reuters)