Ukraine
Gesellschaft & Politik

Das Undenkbare denken: Kiew soll die Ostukraine Putin überlassen

Geisterstädte in der Ostukraine: Ein Hund steht in Debalzewe in der Nähe von Donezk vor zerstörten und verlassenen Häusern.
Geisterstädte in der Ostukraine: Ein Hund steht in Debalzewe in der Nähe von Donezk vor zerstörten und verlassenen Häusern.Bild: KONSTANTIN GRISHIN/EPA/KEYSTONE
Neue Pläne für die Ukraine

Das Undenkbare denken: Kiew soll die Ostukraine Putin überlassen

Die Ukraine steht vor dem Bankrott. Die umkämpften Gebiete im Osten kosten sie Milliarden. Diese Gebiete an Russland zu «verschenken», würde zwei Probleme lösen: Die Ukraine kann überleben und Putin hätte, was er wollte. Doch über dieses Szenario darf man noch kaum laut sprechen.
27.09.2014, 11:0427.04.2015, 17:16
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In wenigen Wochen beginnt in der Ostukraine der Winter. Für viele Menschen wird es eine harte Zeit. Die prorussischen Separatisten haben nicht nur systematisch Brücken zerstört, oft sind auch Kraftwerke, Block-Heizkraftwerke und Fabriken ins Kreuzfeuer geraten. Und viele Häuser sind nach dem Dauerbeschuss unbewohnbar.

Angeblich wurden ganze Maschinenfabriken von drei «weissen Konvois» mit insgesamt 800 Lastwagen illegal nach Russland transportiert. Über eine Million Menschen mussten gemäss dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR diese Regionen verlassen. Die Millionenstadt Donezk zum Beispiel ist eine Geisterstadt und wer hier bleiben muss, lebt von der Hand in den Mund.  

«Donezk» und «Luhansk»
Wenn in diesem Text von den «Regionen Donezk und Luhansk» gesprochen wird, sind die Städte und deren direktes Umfeld gemeint, nicht die gleichnamigen Verwaltungsbezirke (Oblaste), die grösser sind. (jvo)

Donezk und Luhansk sind ausgeblutet

Die Donbass-Mafia mit Rinat Achmetow und der im Februar 2014 nach Russland geflüchtete Präsident Wiktor Janukowytsch haben die Regionen Donezk und Luhansk regelrecht ausgeblutet und ihre Milliarden in die Schweiz, nach Grossbritannien und in andere Finanzplätze geschafft: Im Kohle- und Stahlrevier herrschen dafür Armut und Perspektivlosigkeit. 

Der Wiederaufbau inklusive Sozialhilfe in den Regionen Donezk und Luhansk wird nach vorsichtigen Schätzungen in den nächsten zehn Jahren bis zu 50 Milliarden Euro verschlingen. Selbst wenn Kiew diese exorbitante Summe in die Ostukraine investieren könnte, wären die meisten prorussischen Bewohner weiter unzufrieden und würden den Separatisten in die Hand arbeiten. 

Dasselbe gilt für die Krim-Halbinsel, wo zwar keine Kriegsschäden entstanden sind, deren ökonomische und demographische Lage aber katastrophal ist. Auch für die von Russland annektierte Halbinsel wird der Aufbau inklusive Renten und Sozialhilfen in den nächsten zehn Jahren bis 50 Milliarden Euro kosten. 

Badegäste auf der Krim: Der Tourismus ist am Boden, der Wiederaufbau des ehemaligen Ferienparadieses kostet Milliarden.
Badegäste auf der Krim: Der Tourismus ist am Boden, der Wiederaufbau des ehemaligen Ferienparadieses kostet Milliarden.Bild: AFP

Ukraine geht grösstmögliche Kompromisse ein

Mit der entmilitarisierten Pufferzone und den Selbstverwaltungsrechten bis hin zu einer eigenen «Volksmiliz» für die Regionen Donezk und Luhansk geht die ukrainische Regierung die grösstmöglichen Kompromisse ein. 

Das kümmert die selbst ernannten «Volksrepubliken» von Donezk und Luhansk wenig. Sie wollen eigene Wahlen durchführen und werden dabei von Russland unterstützt, das damit zwei weitere «Frozen Conflicts» schafft. Nach Südossetien und Abchasien (gehören rechtmässig zu Georgien), Bergkarabach (Aserbaidschan) und Transnistrien (Moldawien) nun die Ostukraine und die Krim-Halbinsel. 

Das Undenkbare wird denkbar

Die Situation ist so aussichtslos, dass für realistische Politiker in Kiew das Undenkbare denkbar wird. Und auch westeuropäische Beobachter diskutieren ein Szenario, das noch niemand auszusprechen wagt, weil sonst der Rechte Sektor wieder den Maidan-Platz in Kiew besetzen und Regierungsgebäude stürmen würde. 

Ein Mitarbeiter einer internationalen Organisation und politischer Beobachter in Kiew beschreibt die Pläne: «Das einzige Szenario, das die Ukraine finanziell bewältigen könnte und das politisch eine Zukunft hat, ist ein scharfer Schnitt.» Die Regierung in Kiew sollte die Kerngebiete der prorussischen Separatisten kampflos und bedingungslos in die volle Autonomie entlassen.

«Das einzige Szenario, das die Ukraine finanziell bewältigen könnte und das politisch eine Zukunft hat, ist ein scharfer Schnitt.»
Politischer Beobachter in Kiew

Drei Gebiete in die Autonomie entlassen

Auf der Karte zeigt der NGO-Mitarbeiter auf zwei Quadrate direkt an der russischen Grenze. Das mit 130 Kilometer Seitenlänge grössere Quadrat umfasst die Stadt Luhansk im Norden, das mit 80 Kilometer Seitenlänge kleinere Quadrat die Stadt Donezk. Weiter südlich wäre die Krim-Halbinsel das dritte Gebiet, das in die Autonomie entlassen würde. Der 100 Kilometer breite Küstenstreifen am Schwarzen Meer mit der Stadt Mariupol gehört nach diesen Plänen weiterhin zur Ukraine. 

Skizze des Autonomieszenarios

Die Gebiete um die Stadt Luhansk (grosses Quadrat), um die Stadt Donezk (kleines Quadrat) sowie die Halbinsel Krim (nicht auf der Skizze) sollen von der Ukraine in die Autonomie entlassen werden.
Die Gebiete um die Stadt Luhansk (grosses Quadrat), um die Stadt Donezk (kleines Quadrat) sowie die Halbinsel Krim (nicht auf der Skizze) sollen von der Ukraine in die Autonomie entlassen werden.bild: Ukrainska Prawda

Klar ist für den politischen Beobachter: Wenn Kiew diesen zwei Regionen in der Ostukraine sowie der Krim-Halbinsel die volle Autonomie gäbe, würden sich diese Gebiete der russischen Föderation anschliessen. «Damit hätte Putin, was er wollte: Grosse Teile der Militärindustrie in der Ostukraine, die Krim mit dem Kriegshafen Sewastopol – und den innenpolitischen Erfolg dafür, dass er diese Regionen zu Russland ‹zurückgebracht› hat.» 

Strukturschwache Gebiete loswerden

Auf den ersten Blick sieht die Regierung in Kiew bei diesem Szenario wie die Verliererin aus. Tatsächlich wäre die Ukraine aber die Gewinnerin: Die Regionen Donezk und Luhansk sowie die Krim-Halbinsel sind strukturschwache Gebiete, die ganze Infrastruktur ist veraltet. Die wenigen modernen Maschinenfabriken haben die Russen mit den «weissen Konvois» schon geholt. 

Und die Ukraine steht nur einen kleinen Schritt vor dem Staatsbankrott. Es wird den Bürgern in der Westukraine schwer zu vermitteln sein, weshalb sie in dieser Notlage Milliarden in die Regionen Donezk und Luhansk sowie die Krim-Halbinsel stecken sollen – in Gebiete, deren Bewohner grösstenteils lieber in Russland leben wollen.

In den beiden Regionen der Ostukraine wird ohne den «scharfen Schnitt» ein «Frozen Conflict» herrschen. Sie werden ein Schauplatz möglicher Eskalation bleiben. Bei der Krim werden die Ukraine und der Westen zwar darauf beharren, dass die Halbinsel gemäss Völkerrecht nicht als Teil Russlands anerkannt wird – aber sie können den Fait accompli nicht rückgängig machen, weil sonst Russland in den Regionen Donezk und Luhansk den Konflikt wieder eskaliert.

Krim: Jeder Dritte ist Rentner

Auf der Krim gab es keinen offenen Krieg, dafür sind die ökonomischen und demographischen Faktoren noch schlechter als in der Ostukraine. Die Halbinsel mit ihrem mediterranen Klima ist Alterssitz für die russische und ukrainische Nomenklatura. Von den zwei Millionen Einwohnern sind 600’000 Rentner, denen Russland jährlich 2500 Euro Rente bezahlen muss, insgesamt also 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. 

Neben mehr als 100’000 russischen Berufssoldaten hat die Krim eine sinnlos aufgeblähte Verwaltung mit rund 200’000 Beamten. Sie entsprechen 20 Prozent der werktätigen Bevölkerung. Jedem muss Russland jährlich 6000 Euro Lohn bezahlen.

Zudem muss Russland für 360 Millionen Euro von Krasnodar auf dem russischen Festland eine neue Hochspannungsleitung durch das Meer auf die Krim-Halbinsel verlegen. Kleines, aber nicht unwichtiges Detail am Rande: Das Kraftwerk in Krasnodar ist noch nicht einmal geplant.

Es braucht Brücken, Schienen, Strassen

Und das Budget für die vier Kilometer lange Brücke über die Meerenge von Kertsch musste gemäss der Zeitung «Wedomosti» schon fünfmal angepasst werden, von ursprünglich vier Milliarden auf gegenwärtig zehn Milliarden Franken. Die Zufahrtsstrassen, um die Brücke von Kertsch überhaupt an das Verkehrsnetz anzuschliessen, müssen erst noch gebaut werden. 

Zukunftsmusik: Computersimulation der Brücke von Kertsch.
Zukunftsmusik: Computersimulation der Brücke von Kertsch.bild: eurasischesmagazin.de

Zeitlich und geographisch parallel dazu muss Russland eine Pipeline für das Trinkwasser und die Bewässerung der Landwirtschaft bauen, deren Kosten noch nicht einmal geschätzt werden können. Dafür schätzt Russlands Industrie- und Handelskammer die Kosten für die Modernisierung der Häfen auf der Krim auf 1,5 Milliarden Euro. Dazu kommen 1,2 Milliarden Euro für den Strassenbau, 200 Millionen Euro für die Flughafen-Infrastruktur und 21 Millionen Euro für eine Eisenbahnlinie. Wobei auf der Krim gerätselt wird, wohin diese Strecke führen wird. Kostet doch ein Kilometer zweigleisige Strecke rund zehn Millionen Euro. 

Jährliche Kosten über fünf Milliarden Franken

Insgesamt rechnet der russische Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew für die nächsten zehn Jahre mit jährlichen Kosten über fünf Milliarden Franken, um die Infrastruktur auf der Krim-Halbinsel aufzubauen. 

Kleiner Trost für Russland: Die jährlich 70 Millionen Euro Pacht für die Stationierung der Schwarzmeerflotte in Sewastopol kann sich der Kreml künftig sparen, seit er die Krim-Halbinsel annektiert hat. Im Vergleich zu den vielen Milliarden, die Russland in die Krim investieren muss, ist das aber eine vernachlässigbare Grösse. 

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