Frankreich tritt als amtierender Weltmeister zur EM in Belgien und Holland an. Beim ungefährdeten Startsieg gegen Dänemark besteht die Startelf der hervorragend aufgestellten Franzosen aus zehn Akteuren, die schon vor zwei Jahren bei der Heim-WM den Pokal in den Pariser Nachthimmel gestreckt haben. Nur Mittelstürmer Nicolas Anelka war beim Triumph der «Equipe Tricolore» 1998 nicht dabei.
Und dann greift noch ein Spieler in diese Startpartie ein, der das Turnier zu einem späteren Zeitpunkt prägen sollte. Es ist Sylvain Wiltord. Der damals 26-jährige Stürmer wechselt nach der Euro von Bordeaux zu Arsenal London. Gegen Dänemark braucht er lediglich acht Zeigerumdrehungen, um in der 90. Minute den Treffer zum 3:0-Schlussstand aus Sicht der Franzosen zu erzielen.
Wenn man die damalige Mannschaft Frankreichs etwas genauer anschaut, leuchtet ein, dass in heutigen Fan-Kreisen von Zeit zu Zeit etwas Melancholie aufkommt. Dass die Freunde Jean und François in einem Lyoner Bistro sitzen und bei einem Glas Gevrey-Chambertin und einigen Stückchen Cantal über die goldene Zeit ihrer Mannschaft philosophieren.
Um die Jahrtausendwende stand bei den Franzosen der charismatische Fabien Barthez im Tor, liess dieser sich von Abwehrpatron Laurent Blanc die Glatze küssen, passte der im Spielaufbau auf Zinédine Zidane. «Zizou» lancierte mit einem das Herz hüpfen lassenden Steilpass Thierry Henry im Sturmzentrum – und dieser vollstreckte.
Die Reihe könnte ewig weitergeführt werden, auch Thuram, Lizarazu, Desailly, Vieira, Deschamps oder Djorkaeff – sie alle waren in der Blütezeit ihrer Karriere und sorgten für eine der stärksten, wenn nicht die stärkste Phase in der Geschichte des französischen Fussballs.
Natürlich: Beim Titelgewinn an der WM 2018 in Russland ist eine wunderbare Mannschaft im Einsatz. Lloris als Torhüter und Captain, Kanté und Pogba im Mittelfeld, Griezmann und der damals schon sehr gute Mbappé im Sturm, das sind alles hervorragende Fussballer. Ob sie aber je so prägend werden wie die goldene Generation um die Jahrtausendwende, das ist derzeit offen.
Zurück zur Europameisterschaft 2000 in Belgien und Holland. Nach dem Auftaktsieg gegen Dänemark bezwingen «Les Bleus» auch Tschechien. Henry mit seinem zweiten Turniertreffer und Djorkaeff sind die Torschützen, Sylvain Wiltord – kurz vor Spielende eingewechselt – darf ein zweites Mal EM-Luft schnuppern.
Weil die Gruppe D nach zwei gespielten Runden entschieden ist, lässt Coach Roger Lemerre die Mannschaft vor der abschliessenden Partie gegen Gastgeber Holland fleissig rotieren. Sylvain Wiltord bekommt die Chance, sich im Sturmzentrum von Beginn weg zu präsentieren, dennoch verlieren die Franzosen das Spiel trotz zweimaliger Führung 2:3 und belegen so Gruppenplatz 2.
Im Viertelfinale kommt es unter der Leitung von Kult-Schiedsrichter Pierluigi Collina zum Duell mit Spanien. Frankreich hat nicht viele Chancen, die beiden Treffer von Zidane und Djorkaeff bereits in der ersten Halbzeit reichen aber. Der zwischenzeitliche Ausgleich per Penalty durch Mendieta ist zu wenig aus Sicht der Spanier. Brisant: Raul hat in der 90. Minute die Chance, das Score erneut und auf 2:2 auszugleichen, der Stürmer ballert seinen Penalty aber am Lattenkreuz vorbei. Mendieta war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgewechselt.
28. Juni, Brüssel, Halbfinale. Gegner ist das zweite Team der iberischen Halbinsel, die Portugiesen. Bis in die 117. Spielminute steht es 1:1, Nuno Gomes und Henry sind die Torschützen. Dann schiesst – es passt zur Dramaturgie dieser Geschichte – Sylvain Wiltord aufs Tor, Abel Xavier – zuvor hatte der Verteidiger selber die Chance, das Spiel zu entscheiden – kann nur mit der Hand abwehren, Penalty. Superstar Zidane übernimmt die Verantwortung und trifft sicher. Golden Goal, Sieg, Abpfiff, Finale.
Auch in diesem Finale gegen Italien ist für Sylvain Wiltord kein Platz in der Startformation, im Angriff sollen die arrivierten Henry und Dugarry für Tore sorgen. Gejubelt wird nach 55 Minuten allerdings auf der Gegenseite, Delvecchio trifft, von den Franzosen schlecht gedeckt, zur Führung. Entgegen dem üblichen Catenaccio hat Italien aber auch nach dem Treffer vorzügliche Torchancen, Del Piero und erneut Delvecchio hätten den Vorsprung ausbauen müssen.
Vor 48'000 Zuschauern im Feyenoord-Stadion von Rotterdam läuft die Uhr immer mehr für das Team von Dino Zoff. Auf der italienischen Ersatzbank sind die Spieler bereit zum Jubeln, währenddessen spielen Cannavaro, Maldini, Totti und Co. die Partie scheinbar ungefährdet runter.
Auch Sylvain Wiltord steht zu diesem Zeitpunkt auf dem Platz, nach einer Stunde ersetzt er Dugarry im Angriffszentrum der «Equipe Tricolore». Nach 93 Minuten knallt Frankreichs Keeper Barthez das Leder ein letztes Mal verzweifelt nach vorn. Auf Höhe Strafraum verlängert Trezeguet, kann Cannavaro diese Verlängerung nicht klären und erzielt – ja tatsächlich – Sylvain Wiltord durch die Beine von Nesta den ultraspäten Ausgleich.
Die französischen Fans drehen durch vor Freude und ihre chronischen Gefühlsausbrüche werden in der Verlängerung gar getoppt. Trezeguet hämmert in der 103. Minute eine Hereingabe von Pires in die Maschen, Frankreich ist Europameister.
Zum ersten Mal seit der BRD (EM-Titel 1972, WM-Triumph 1974) ist ein Team in beiden Wettbewerben gleichzeitig Champion. Sylvain Wiltord, der kleingewachsene Fussballer aus Neuilly-sur-Marne östlich von Paris, erobert für immer einen Platz in den französischen Fussballherzen. Und Wiltord macht eine vorzügliche Karriere im Dress der französischen Nationalmannschaft: Bis 2006 kommt er auf 92 Länderspiele und 26 Tore.