Hätten die Kolumbianer doch auf Max Merkel gehört. Der einstige Bundesliga-Trainer und bissige Polemiker hatte vorgeschlagen, die Kolumbianer sollten René Higuita «einfach am Pfosten anbinden».
Hätten sie es getan, wäre Higuita im Achtelfinal gegen Kamerun nicht in der Verlängerung mit dem Ball am Fuss Richtung Mittellinie gestürmt. Er hätte nicht 20 Meter vor seinem Tor den Ball verloren. Roger Milla hätte den Ball nicht ins leere Tor schiessen können. Es hätte nicht 2:0 für Kamerun geheissen.
«Es war ein Fehler, so gross wie ein Haus», gab der Goalie hinterher zu. René Higuita wollte der Star dieser WM werden. Aber an diesem Abend lief ihm der 38-jährige Stürmer aus Kamerun den Rang ab. Der Alte entzauberte den Irren. Milla war angestellt beim Fussballklub Saint-Pierroise auf der Insel La Réunion im Indischen Ozean und eigentlich bereits im Ruhestand. Der älteste Spieler des Turniers. Kamerun war also im Viertelfinale.
Nach dem 0:4 im letzten Vorrundenspiel gegen die Sowjetunion schien es, als sei die Kraft ausgegangen. Dass die Afrikaner den Achtelfinal überstanden, verdankten sie auch René Higuita. Für waghalsige Einlagen war er bekannt. In seiner Heimat Medellin nannten sie ihn nur «El Loco» («der Verrückte»).
Er verdiente bei Atlético Nacional in Medellin mit 70'000 Dollar jährlich zwar ordentlich. Aber diese WM sollte ihm Angebote aus den grossen Fussballligen und das grosse Geld bescheren. Eigentlich waren ihm bis dahin kaum spielentscheidende Fehler unterlaufen. Er verwandelte bloss ab und zu einen Freistoss. Die Legende geht, er sei nur vom Feldspieler zum Goalie mutiert, weil der Stammgoalie vor einer Partie nicht rechtzeitig aus einem Kokainrausch aufgewacht war.
Mit einer Körpergrösse von bloss 174 Zentimetern war René Higuita eigentlich zu klein, um Torhüter zu sein. Was war er? Ein Clown? Oder am Ende doch ein grosser Goalie? Südamerikas Sportjournalisten hatten ihn zum besten Torhüter ihres Kontinents gewählt. Franz Beckenbauer sagte immerhin: «Der imponiert mir. Er spielt als Libero intelligent mit.»
Aber René Higuitas offensive Interpretation des Torhüterspiels setzte sich nicht durch. Er tauchte nur kurz im europäischen Fussball auf (1992/93 bei Real Valladolid). Den Höhepunkt hatte er da noch vor sich. Es war kein Titelgewinn, ja nicht einmal ein Sieg. Bloss ein 0:0. Beim Spiel mit Kolumbien gegen England gelang ihm am 6. September 1995 im Wembley eine der spektakulärsten Paraden der Fussballgeschichte.
Statt einen Fernschuss mit den Händen abzufangen, liess er sich nach vorne fallen und parierte den Ball auf der Torlinie mit beiden Hacken. Die Parade wurde als «Skorpion-Kick» weltberühmt. Nachdem er zum zweiten Mal in einer Dopingkontrolle hängen geblieben war (Kokain), beendete er seine Karriere 2010.
In 68 Länderspielen für Kolumbien erzielte er drei Tore. Bis er 1998 von José Luis Chilavert (Paraguay) übertroffen wurde, war Higuita der in Länderspielen torgefährlichste Torhüter der Welt. Nicht René Higuita, sondern Roger Milla wurde bei der WM 1990 ein Star. Er erzielte vier Treffer und jeden feierte er mit einem Makossa-Tanz an der Eckfahne. Kamerun scheiterte im Viertelfinale gegen England erst in der Verlängerung (2:3).
Roger Milla trat vier Jahre später bei der WM in den USA im Alter von 42 Jahren noch einmal an, schoss gegen Russland ein Tor und ist damit ältester WM-Torschütze. Seit seinem Rücktritt 1996 ist er Sportberater der Regierung. Er wohnt abwechselnd in Kamerun und Frankreich.