Es ist ein Spickzettel, der Deutschland in den WM-Halbfinal bringt und die Argentinier bittere Tränen weinen lässt. Vor dem Elfmeterschiessen im Viertelfinal erhält Jens Lehmann vom deutschen Torwarttrainer Andreas Köpke ein Stück Papier. Drauf ist zu lesen, wie die Argentinier ihre Elfmeter schiessen könnten.
Doch der Reihe nach: Das Spiel ist an Dramatik kaum zu überbieten. Deutschland steht an der Heim-WM unter gigantischem Druck. Das Berliner Olympiastadion ist mit 75'000 Fans proppenvoll, lediglich 5000 davon unterstützen die Gauchos. In einem ARD-Rückblick ist die Rede von «einer Fussball-Folter extremsten Ausmasses».
Ganz Deutschland erwartet von Jürgen Klinsmanns Team den Weltmeistertitel, ein Scheitern im Viertelfinal käme einer Staatstrauer gleich. Auf der anderen Seite das feurige Argentinien, das den Deutschen die Party vermiesen möchte und Mitfavorit auf den Titel ist.
Kurz nach der Pause gehen die Argentinier durch einen Kopfballtreffer von Roberto Ayala in Führung. 20 Minuten später begeht Argentiniens Trainer José Pekerman zwei folgenschwere Wechselfehler. Er rechnet nicht mehr damit, dass die Deutschen noch ein Tor erzielen.
Erst tauscht er in der 72. Minute seinen Regisseur Riquelme für den defensiven Cambiasso aus, in der 79. Minute ersetzt er Starstürmer Crespo durch Cruz. Eine Zeigerumdrehung später schlägt Deutschland zurück. Borowski verlängert eine Flanke von Ballack mit dem Kopf, Klose erzielt den Ausgleich.
In der Verlängerung ist Argentinien ohne Spielmacher Riquelme nicht in der Lage, die Entscheidung herbeizuführen. Auch Deutschland kann das Elfmeterschiessen nicht verhindern. Als die beiden Mannschaften nochmals zusammenkommen, ereignet sich eine der schönsten Szenen des Turniers. Der vor der WM von Jürgen Klinsmann zur Nummer 2 degradierte Oliver Kahn zeigt sich als wahrer Sportsmann und schwört Konkurrent Jens Lehmann aufs Elfmeterschiessen ein.
Nun übergibt Torwarttrainer Köpke Lehmann seinen vorbereiteten Zettel. Die Namen von Riquelme, Crespo (beide ausgewechselt) und Messi (auf der Ersatzbank) sind bereits durchgestrichen. Der erste Elfmeterschütze der Argentinier ist Julio Cruz. Lehmann schaut zwar auf den Zettel, doch dort ist keine Information zu Cruz zu finden und auch sein Verwirrspiel ist nicht von Erfolg gekrönt, Cruz trifft sicher. Beim zweiten Gaucho-Penalty ist Ayala an der Reihe und jetzt fruchtet der Spickzettel ein erstes Mal. Es steht geschrieben, dass der Argentinier in die rechte Ecke schiesst und prompt pariert Lehmann.
Allerdings sind es nicht die Informationen selber, die Lehmann helfen, vielmehr sind die Argentinier vom Spickzettel verunsichert. Lehmann sagt später in der «Frankfurter Allgemeine»: «Leider waren die Notizen nicht wirklich hilfreich. Die Ecken sind aus meiner Sicht notiert, und die Schützen haben dann entgegengesetzt geschossen.» Zudem sei der Zettel «schwer zu lesen gewesen».
Bei Rodriguez, dem dritten Schützen, ist die Info auf dem Spickzettel ebenfalls richtig. Der Schuss des Argentiniers ist aber zu platziert, keine Chance für Lehmann. Weil alle Deutschen getroffen haben, muss Cambiasso den vierten Penalty versenken. Obwohl zum Defensivspezialisten nichts vermerkt ist, schaut Lehmann lange auf den Zettel. Dieses Psychospiel funktioniert, Lehmann wehrt den Elfmeter des Gauchos ab und Deutschland steht – weil alle vier DFB-Schützen die Nerven behalten – im Halbfinal.
«Deutschland steht im Halbfinale. Und Lehmann ist der Fussballgott heute», schreit ARD-Kommentator Reinhold Beckmann ins Mikrofon. Trainer Jürgen Klinsmann verspürt Genugtuung, nachdem er für seine Wahl, sich auf Lehmann als Nummer 1 festzulegen, heftig kritisiert worden ist.
Nach Spielschluss kommt es zu wüsten Szenen. Die Argentinier können ihr Ausscheiden nicht verkraften und lassen die Fäuste fliegen. Der argentinische Auswechselspieler Cufre verpasst Mertesacker einen Tritt in den Unterleib. In der Hitze des Gefechts verwechseln die Gauchos Mertesacker mit Borowski, dieser hat sie während dem Penaltyschiessen mit einer Geste provoziert. Neben zwei Argentiniern erhält auch der überragende Torsten Frings aufgrund einer Tätlichkeit nach Spielschluss eine Spielsperre und fehlt seinem Team im Halbfinal gegen Italien. Trainer José Pekerman erklärt an der anschliessenden Medienkonferenz seinen Rücktritt.
Ganz Deutschland jubelt über den Halbfinal-Einzug. Dort nimmt das deutsche «Sommermärchen» aber sein Ende. Das Team von Jürgen Klinsmann unterliegt Italien in der Verlängerung. Fünf Tage später holen sich die Italiener in einem packenden Finale gegen Frankreich den Titel.
Der legendäre Spickzettel ist heute im «Haus der Geschichte» in Bonn ausgestellt. Auf Kunstrasen gebettet im Foyer des historischen Museums. Zuvor hat das Stück Papier eine Million Euro eingebracht. Bei einer Versteigerung für gute Zwecke ging es an den Energiekonzern «EnBW». Dass er überhaupt noch existiert ist eine günstige Fügung des Schicksals. Lehmann gestand später nämlich: «Ich hätte den Zettel beinahe weggeschmissen, irgendwann fiel er mir wieder vor die Füsse.»