Zunächst ist unklar, was sich genau an diesem warmen Frühlingsabend am Hamburger Rothenbaum ereignet hat. Monica Seles kann sich im Viertelfinale gegen die Bulgarin Magdalena Maleewa plötzlich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie bricht vor dem Netz zusammen und liegt nun in der roten Asche. «Es war ein grausamerer Schmerz, als ich ihn mir je hätte vorstellen können», sagt sie gemäss einem Bericht des NDR später. Helfer eilen herbei, um die Serbin erstzuversorgen. Ihr weisses Shirt ist am Rücken blutverschmiert.
Derweil wird in der ersten Sitzreihe ein Mann von mehreren Personen überwältigt. Er hält ein Messer in den erhobenen Händen, will ein zweites Mal zustechen, wehrt sich nach Kräften. Seine Baseballmütze fällt während des Kampfes zu Boden. So auch das lange Schlachtermesser, mit dem er Seles zuvor in die Schulter gestochen hat.
Der Attentäter namens Günter Parche ist arbeitslos und ein glühender Fan von Steffi Graf. Und er hat Angst um den deutschen Tennisstar. Denn die jahrelange Dominanz von Steffi Graf beginnt durch den neuen Stern am Tennishimmel zu bröckeln. Die unterschiedlichen Persönlichkeiten – die schon etwas reifere, introvertierte Steffi Graf und die junge, lebenslustige Monica Seles – prallen im Tenniszirkus aufeinander und die Deutsche droht, die Spitzenposition an Seles zu verlieren.
In der berühmten Tennisschule von Nick Bollettieri ausgebildet – nachdem dieser sie bei einem Juniorenturnier entdeckt hat und die Familie Seles überzeugen konnte, von Novi Sad (Serbien) in die USA umzusiedeln – entwickelte Monica Seles ein Powertennis mit extremem Winkelspiel, welches sie doppelhändig auf beiden Seiten umsetzte. Bereits mit 15 Jahren Profi geworden, erobert Seles bald die Tenniswelt. Sie gewinnt im Debütjahr gleich einen Titel (Houston).
1990 dann der grosse Durchbruch für die Frau mit ungarischen Wurzeln: Seles beendet beim German Open in Berlin die Siegesserie von Steffi Graf. 66 Spiele war die Golden-Slam-Siegerin unbesiegt geblieben, als Seles die zweitlängste Siegesserie im Tennissport jäh stoppte.
Bei den French Open zwei Wochen später wiederholte sie den Coup und schlug die Deutsche in Paris in zwei Sätzen. Erst 16 Jahre und 6 Monate hat die Jugoslawin damals bei ihrem ersten Grand-Slam-Titel auf dem Buckel.
Im nächsten Tennisjahr setzt Seles ihren Siegeszug fort. Sie gewinnt die Australian Open, French Open und die US Open. Im März 1991 löste sie ausserdem ihre Hauptkonkurrentin an der Weltranglistenspitze ab. 1992 gewinnt sie gleich nochmal die gleichen Grand Slams. Und im Januar 1993 folgt der dritte Streich von Seles an den Australian Open.
Seles war also auf dem Weg, grosse Tennisgeschichte zu schreiben. Bis Günter Parche, von Beruf Dreher in einem Motorenwerk, zustach ...
Sein Ziel war es, Seles so zu verletzen, dass sie nicht mehr Tennis spielen konnte und Graf wieder die Nummer eins im Damentennis wird. Und leider muss man sagen, dass der «Maniac» – so von den englischen Medien getauft – sein Ziel erreichte.
Die physische Wunde war dank des Eingreifens eines Ordners, der den Täter daran hinderte, mit voller Wucht zuzustechen, zum Glück nicht sehr tief. Die seelische Belastung macht Monica Seles aber schwer zu schaffen.
Wie «Focus» schreibt, sieht sich Seles als Opfer weit über Parches Tat hinaus. Dass Parche abgesehen von sechs Monaten Untersuchungshaft nie ins Gefängnis musste – aufgrund hochabnormer Persönlichkeitsstruktur und verminderter Steuerungsfähigkeit (äussert lesenswert dazu der Report von Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen) – verkraftete sie nie. Parche wurde im Oktober 1993 wegen gefährlicher Körperverletzung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Eineinhalb Jahre lang kämpfte Seles danach mit ihren Anwälten für eine härtere Strafe. Vergeblich. Auch nach dem Berufungsprozess blieb Parche draussen.
In der Tenniswelt gibt sie 1995 ein Comeback und gewinnt gleich das Turnier. Doch Verletzungsprobleme, der Tod ihres Vaters, Panik- und Fressatacken machen der nun Verängstigten, die nur noch mit Bodyguards in der Öffentlichkeit auftaucht, zu schaffen. Sie gewinnt zwar noch ein Grand-Slam-Turnier (Australian Open 1996) und erzielt einige Erfolge, an ihre frühere Glanzzeiten kommt sie aber nicht mehr heran. Ihr offizieller Rücktritt kommt zwar erst 2008, in den Jahren zuvor hat sie aber meist aus Verletzungsgründen nur unregelmässig auf der Tour spielen können.
In Deutschland spielt sie nie mehr. «Dies ist nun einmal das Land, das den Mann, der mich angegriffen hat, nicht ausreichend bestrafte», wie Seles enttäuscht bekannte.
Günter Parche lebt mittlerweile nach mehreren Schlaganfällen entmündigt in einem Seniorenheim in Thüringen. Monica Seles lebt in Florida mit US-Milliardär Tom Golisano.