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Der Nationalstaat ist besser als sein Ruf

epa04936862 epa04936860 Dairy farmers attend traditional Chaesteilet (lit.: sharing the cheese) in Justistal, Switzerland, 18 September 2015. The local farmers whose cows have spend the summer on the  ...
«Chäs-Teilete» auf einer Alp.Bild: EPA/KEYSTONE

Der Nationalstaat ist besser als sein Ruf

In seinem Buch «Straight Talk on Trade» plädiert ausgerechnet der progressive Ökonom Dani Rodrik für einen starken Nationalstaat und warnt vor der Illusion einer globalen Regierung. Dabei erklärt er auch, weshalb die Welt mehr Füchse und weniger Igel braucht.
05.12.2017, 16:0406.12.2017, 05:03
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Der Kapitalismus hat schon bessere Tage gesehen. Will er überleben, dann muss er sich neu erfinden, «um die Herausforderungen der Globalisierung, der Ungleichheit, des raschen technischen Wandels, der Klimaerwärmung und demokratischer Rechenschaftspflicht meistern zu können», wie Dani Rodrik in seinem neuen Buch «Straight Talk on Trade» feststellt. Er ist Professor an der Harvard University und einer der renommiertesten Handelsökonomen der Gegenwart.  

Gilt als führender Handelsökonom: Dani Rodrik.
Gilt als führender Handelsökonom: Dani Rodrik.

Rodrik wird dem progressiven Lager zugeordnet. Umso überraschender ist daher auf den ersten Blick sein Kernanliegen: Er setzt sich vehement für die Stärkung des Nationalstaates ein. Ein Linksliberaler als Champion des Nationalstaates, ist das in Zeiten eines bedrohlich wachsenden Nationalismus nicht ein Widerspruch in den Begriffen?  

Nicht bei Dani Rodrik. Er hat plausible Gründe für seine These. Der traditionelle Gegensatz zwischen Staat und Markt sei in Zeiten von immer komplexer werdenden Märkten obsolet geworden, argumentiert er.

«Eine erfolgreiche Politik gründet auf heimischen Experimenten und Innovationen der lokalen Institutionen.»

Daher müssen wir umdenken: «Gut funktionierende, nachhaltige Märkte werden von einer breiten Palette von Institutionen gestützt, die kritische Funktionen bezüglich Regulierung, Umverteilung, geld- und fiskalpolitischer Stabilität und Konfliktmanagement anbieten.»  

Diese Aufgabe kann heute nur ein moderner Nationalstaat meistern. Globale Institutionen sind viel zu schwach, um dringend notwendige Regeln auch durchsetzen zu können. IMF, Weltbank oder OECD können zwar so genannte «best-pratice-Regeln» ausarbeiten – Regeln, welche die angeblich beste Lösung für ein Problem aufzeigen –, aber sie haben kaum Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass sie auch in Kraft treten.  

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Treffen im UN-Hauptgebäude in New York.Bild: EPA/US DEPT. OF STATE

Überhaupt hält Rodrik wenig von «best practice». Was gut für Chile ist, kann schlecht für die Schweiz sein, und was in Deutschland funktioniert, kann in den USA versagen. Alle Volkswirtschaften in ein starres, allgemein gültiges Konzept zu pressen, ist daher unsinnig. Jede Nation muss ihren eigenen Weg finden. «Eine erfolgreiche Politik gründet auf heimischen Experimenten und Innovationen der lokalen Institutionen», so Rodrik, «und nicht auf ‹best practice› und Vorlagen, die von internationalen Experimenten stammen.»  

Allerdings, allein mit der Stärkung der nationalen Institutionen ist es nicht getan. Berühmt geworden ist Rodrik nämlich mit seiner Trilemma-These. Sie besagt: Ein Staat kann nicht gleichzeitig demokratisch sein, seine eigene Volkswirtschaft schützen und an der Globalisierung teilnehmen. Er muss sich für zwei dieser drei Dinge entscheiden.  

Hyperglobalisierung als Bedrohung

Zu viele Staaten haben sich gemäss Rodrik in den letzten Jahrzehnten für die Globalisierung entschieden und dabei die Interessen der einheimischen Bevölkerung vernachlässigt. Das rächt sich nun. Brexit, Trump und die wachsende Gefahr eines gefährlichen Nationalismus sind die Folgen dieser Entwicklung, die Rodrik «Hyperglobalisierung» nennt.  

Die negativen Folgen des Trilemmas zeigen sich derzeit auch in der EU. «Wollen die europäischen Staatschefs die Demokratie erhalten, dann müssen sie sich zwischen einer politischen Union oder einer wirtschaftlichen Desintegration entscheiden», so Rodrik. «Sie müssen sich entweder explizit von der wirtschaftlichen Souveränität verabschieden oder sie aktiv zugunsten ihrer Bürger verwenden. Im ersten Fall müssen sie den Wählerinnen und Wähler reinen Wein einschenken und einen demokratischen Raum über den Nationalstaaten schaffen. Oder sie müssen die Einheitswährung wieder abschaffen und zu einer nationalen Geldpolitik zurückkehren.»  

radar-reuters Die italienische Küstenwache hat erneut über 1300 Flüchtlinge vor Sizilien und Nordafrika aus Booten gerettet.Die Menschen seien am Samstag bei insgesamt elf verschiedenen Einsätzen zwis ...
Afrikanische Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Sie sind auch die Opfer einer «vorzeitigen Deindustrialisierung».Bild: kaltura

Die Balance zwischen global und national zu finden ist für alle Regierungen zur vielleicht anspruchsvollsten Herausforderung der Gegenwart geworden. Das gilt besonders für die Entwicklungs- und Schwellenländer. Sie können heute nicht mehr das Vorbild der reichen westlichen Länder und der asiatischen Tigerländer kopieren. Schuld daran ist ein Phänomen, das Rodrik «vorzeitige Deindustrialisierung» nennt.  

Einst sah der traditionelle Weg zu Wohlstand wie folgt aus: Die zunächst überwiegend bäuerliche Bevölkerung wird als ungelernte Arbeiter in die industrielle Massenproduktion integriert. Dadurch steigen die Produktivität der Volkswirtschaft und damit auch der nationale Wohlstand massiv an. Die Arbeitsteilung schreitet weiter voran, das Land wird reich.  

Der traditionelle Weg zum Wohlstand ist verbaut

Dieser Weg ist den heutigen Entwicklungsländern weitgehend verbaut. Massenproduktion wird zunehmend nicht mehr von ungelernten Arbeitern, sondern von Robotern erledigt. «Die Kräfte der Globalisierung und des technischen Fortschrittes haben die Natur des industriellen Prozesses in einer Art und Weise verändert, die es den zu spät Gekommenen praktisch verunmöglicht, dem Beispiel der ostasiatischen Tigerstaaten und der europäischen und der nordamerikanischen Wirtschaft zu folgen», stellt Rodrik fest.  

Demographisch geschieht genau das Gegenteil. Die Bevölkerungsexplosion in Afrika und Indien hat die «vorzeitige Deindustrialisierung» zu einem der drängendsten geopolitischen Probleme der Gegenwart gemacht. Hunderte von Millionen junger Menschen ohne Zukunftsperspektive sind brandgefährlich. «Angesichts des langsamen Strukturwandels sagt die Weltbank voraus, dass über die nächsten zehn Jahre nur einer von vier afrikanischen Jugendlichen einen festen Arbeitsplatz ergattern wird», warnt Rodrik.  

Grossangelegte Handelsabkommen helfen nicht weiter

Auch er hat jedoch kein Patentrezept, wie diese Zeitbombe entschärft werden kann. «Es braucht einen neuen Weg», stellt er lediglich fest. «Wir können zwar die groben Umrisse dieses Weges beschreiben. Es ist ein Modell, das auf der Dienstleistungsindustrie beruhen muss. Es wird ein Modell sein, das sich auf eine sanfte Infrastruktur konzentriert – Ausbildung und Verwaltung – und weniger auf die Akkumulation physischer Güter – Werkhalle und Fabriken.»  

Gross angelegte Handelabkommen helfen kaum weiter. Rodrik kann weder TPP noch TTIP viel Positives abgewinnen. Er betrachtet sie als Null-Summen-Spiel, und zwar aus liberaler wie auch aus merkantilistischer Sicht. Liberale plädieren für möglichst viel Freihandel, Merkantilisten trachten danach, mit möglichst viel Export die eigene Volkswirtschaft zu stärken. «Aus der Sicht des komparativen Wettbewerbvorteils (i.e. aus liberaler Sicht, Anm. des Verf.) schaffen Handelsabkommen keine neuen Jobs, sie verteilen sie bloss. Aus merkantilistischer Sicht können sie Jobs schaffen, aber nur, wenn diese Jobs anderswo vernichtet werden», schreibt Rodrik.  

Warum wir mehr Füchse brauchen

Es gibt somit kein bestimmtes ökonomisches Modell, das weiter hilft. Dogmen sind wenig zielführend. Rodrik plädiert dafür, dass Ökonomen und Politiker kein bestimmtes Modell verfolgen, sondern opportunistisch jeweils das am besten geeignete anwenden. Er beruft sich dabei auf den Philosophen Isaiah Berlin. Dieser hat in einem legendären Vergleich zwei Arten des Denkens unterschieden, die er Igel und Fuchs nennt.  

Gemäss Berlin vertreten die Igel eine allumfassende Theorie, die im Prinzip jedes Problem lösen kann. Füchse hingegen haben keine grossartige Vision, sie haben verschiedene teils sich widersprechende Modelle, die sie je nach Situation einsetzen. Die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bilden ein schlechtes Umfeld für generalisierende Weltanschauungen. Wer die Balance zwischen global und lokal finden und dem Fluch des Trilemmas entgehen will, muss opportunistisch handeln. Für Rodrik ist daher klar: «Die Welt braucht weniger Igel und mehr Füchse.»

Sie sind jung, aufstrebend und gut gebildet

Video: srf
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28 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Knety
05.12.2017 16:36registriert Mai 2016
Gewaltenteilung, Gleichheit vor dem Gesetz, Demokratie, Recht auf Privateigentum...
So schlecht ist der Ruf des Nationalstaates gar nicht.
Nur ein paar Leute in Brüssel würden gerne ihre Machtbefugnisse erweitern. Das ist alles.
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Angelo C.
05.12.2017 20:01registriert Oktober 2014
Dass der Nationalstaat auch auf int. Verknüpfungen wirtschaftlicher Art angewiesen ist, ist zwar eine Binsenwahrheit, die kaum in Frage gestellt werden kann.

Dass er jedoch niemals wirklich "globalisiert und internationalisiert" wegrationalisiert werden kann, ist dem denkfähigen Beobachter genauso klar. Linkslastige Sandkastenspiele, die das Gegenteil propagieren, werden ihr Ziel niemals erreichen, da spricht jegliche Empirie dagegen.

Auch in regionalen, vermehrt aber noch globalen Krisen, sind die national geprägten Gesellschaften auf sich selbst zurückgeworfen - und wollen es auch sein.
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Töfflifahrer
05.12.2017 17:30registriert August 2015
Und, unsere Politiker sind geistig im ‚Gestern‘ gefangen. Es wird immer noch der Heilige Chor des Privatisierens gesungen. Sie vermuten, oder wissen, dass dies dem Volk nichts Gutes bringt. Aber wenn schon die Konzepte fehlen, dann soll zumindest kurzfristig die eigene Klientel provitieren.
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