Krise in Griechenland, autoritäre Nationalisten in Ungarn und Polen, grassierende Arbeitslosigkeit, stagnierende Wirtschaft, explodierende Staatsschulden, unkontrollierte Flüchtlingsströme und der Brexit: Die negativen Schlagzeilen über Europa nahmen kein Ende. Der alte Kontinent schien in tiefste Depression zu verfallen.
Plötzlich ist alles wieder anders: Bankanalysten empfehlen wärmstens europäische Aktien, die Unternehmen melden steigende Gewinne, die Arbeitslosenzahlen fallen. Die bereits abgeschriebene europäische Wirtschaft kommt wieder in Fahrt, nicht nur in Deutschland. Spanien ist schon fast wieder eine Art Musterknabe geworden.
Die französische und die italienische Wirtschaft sind besser als ihr Ruf. Selbst die Sorgenkinder befinden sich auf dem Weg zur Besserung. Das Bruttoinlandprodukt von Portugal ist im ersten Quartal dieses Jahres um 2,8 Prozent gewachsen, Griechenland freut sich auf eine touristische Rekordsaison.
Nicht nur die Wirtschaft, auch der politische Stolz ist wieder erwacht. Angela Merkel hat mit ihrer scharfen Kritik am US-Präsidenten die News über das Wochenende dominiert. Ihre in einem bayrischen Bierzelt gemachte Bemerkung, die USA und Grossbritannien seien keine verlässlichen Partner mehr, wurden auf beiden Seiten des Atlantik ausführlich analysiert und kommentiert.
Wladimir Putin musste sich derweil vom neuen französischen Präsidenten öffentlich vorhalten lassen, dass der russische TV-Sender RT und die Nachrichtenagentur Sputnik bloss Propaganda verbreiten würden.
Das neue Selbstbewusstsein der Europäer ist nicht nur das Resultat der wirtschaftlichen Erholung. Trump und Putin haben das Ihre dazu beigetragen. Der russische Präsident hat mit seinen plumpen Versuchen, auch die französischen Wahlen zu manipulieren, Macron einen Steilpass geliefert, der dankend angenommen wurde.
Donald Trump seinerseits hat es geschafft, selbst die schlimmsten Befürchtungen zu übertreffen. Sein Verhalten am NATO-Gipfel und am Treffen der Staatsoberhäupter der G7 war unter jeder Sau. Er legte kein Bekenntnis zur NATO ab und will nun offenbar auch das Pariser Klimaabkommen aufkündigen. Er kanzelt alte Bündnispartner ab und lobt dafür Autokraten wie Tayyip Erdogan und Rodrigo Duterte. Offenbar ist der US-Präsident gewillt, das amerikanische Kapital an Softpower möglichst rasch zu vernichten.
Vernichtend fiel die Kritik an Trumps ungehobeltem Macho-Verhalten selbst in den USA aus. Wenn heute vom Führer der freien Welt die Rede ist, dann meinen zumindest die liberalen Amerikaner damit nicht mehr Trump, sondern Angela Merkel. Die von den USA geführte liberale Weltordnung wird zu Grabe getragen.
Der Höhenflug des europäischen Selbstbewusstseins in Ehren – gewonnen ist noch gar nichts. Die Eurokrise ist deswegen nicht überwunden, und Europa hat damit noch keine sicheren Aussengrenzen erhalten. Diese beiden Probleme muss die EU lösen, wenn sie nachhaltig gesunden will. Das haben die letzten Jahre überdeutlich gezeigt.
Ein Europa ohne innere Grenzen, wie es mit dem Vertrag von Schengen beschlossen wurde, ist nur möglich, wenn die Aussengrenzen gesichert sind. Einen zweiten Herbst 2015 überlebt die EU politisch nicht. Die Sicherung der Aussengrenze einer dubiosen Figur wie Erdogan zu überlassen, ist keine Option. Die EU muss damit eine Lösung finden, wie sie die Flüchtlingsströme geordnet eindämmen kann, ohne die Menschlichkeit über Bord zu werfen.
Auch eine Zweitauflage der griechischen Tragödie des Jahres 2013 kann sich Europa nicht mehr leisten. Entweder wird die Einheitswährung über Bord geworfen – was offenbar mit unlösbaren technischen Problemen verbunden ist –, oder es werden Wege gefunden, wie man eine wahre Bankenunion und wirksame Ausgleichsmechanismen einrichten kann. Ein Festhalten an der deutschen Austeritätspolitik ist ebenfalls keine Option.
Mit etwas Glück und politischem Verstand ist es möglich geworden, beide Ziele zu erreichen. Trumps Gepolter und Putins Intrigen haben die positive Nebenwirkung, dass der Wert der europäischen Einigung wieder vermehrt erkannt wird. Der Ausgang der europäischen Wahlen hat den Albtraum eines Frexit vorerst verscheucht. In Deutschland sorgt eine brummende Wirtschaft dafür, dass die Bäume der AfD nicht in den Himmel wachsen.
Deshalb sind politische Kompromisse in Europa wieder möglich geworden. Frankreich macht Zugeständnisse in Sachen Reform, Deutschland rückt von der harten Austeritätspolitik ab und schickt Finanzminister Wolfgang Schäuble nach den Wahlen in Rente. Ziehen die beiden dominierenden Nationen der EU wieder an einem Strick, dann ziehen die anderen nach. Die Spaltpilze Europas – Trump, Putin und Theresa May – hätten dann das Nachsehen.