Das überraschend deutliche «Oxi» der Griechen verleitet zu falschen Schlüssen: Die Griechen wollen den Grexit und damit gibt es ein Ende mit Schrecken. Die hoffnungslos zerrüttete Ehe zwischen Griechenland und der EU wird geschieden. Es herrschen wieder klare Verhältnisse.
Das ist eine Illusion. So etwas wie klare Verhältnisse wird es zwischen Athen und Brüssel so schnell nicht geben. In Europa tobt ein Glaubenskrieg. Zwar wird nicht über Ablass und die Stellung des Papsts gestritten, sondern darüber, ob die Schuldner büssen oder ob ihnen ein Schuldenerlass und damit ein Neuanfang gewährt werden soll.
Wie die Religionskriege im Mittelalter wird auch dieser ökonomische Glaubenskrieg selbstgerecht und dogmatisch geführt. Angeführt von Deutschland pochen die «Calvinisten» darauf, dass jeder Staat für sein eigenes Schicksal verantwortlich ist und Schulden bezahlt werden müssen. Die «Katholiken» rund ums Mittelmeer plädieren jedoch dafür, dass nach einer Beichte für begangene Sünden jetzt Vergebung und ein Neuanfang gewährt werden sollten.
Wie in jedem Glaubenskrieg kommen die beiden Ideologien zu völlig unterschiedlichen Interpretation der Welt. Die Calvinisten betonen immer wieder, was für Zugeständnisse die EU bereits an die Adresse der Griechen EU gemacht hätten, und dass weitere Zugeständnisse schlicht nicht mehr zu verantworten wären. Gleichzeitig verweisen sie auf die beiden anderen Schuldnerländer Portugal und Irland, die es mit ihrer Disziplin geschafft hätten, sich wieder aus der Obhut des europäischen Hilfsfonds EMS zu befreien.
Die Katholiken ihrerseits pochen darauf, dass die Hilfe der Troika Griechenland in eine noch weit schlimmere Lage gebracht und zu einem beispiellosen Zusammenbruch der Wirtschaft geführt habe. Zudem hätten die Mitglieder der Troika – notabene ein Gremium von nichtgewählten Technokraten – sich schlimmer aufgeführt als die Kolonialisten des 19. Jahrhunderts. Sie hätten den Griechen idiotische Massnahmen aufgezwungen und sie aufs Tiefste erniedrigt.
Diese beiden Interpretationen sind nicht unter einen Hut zu bringen.
Einen ökonomischen Glaubenskrieg kann sich Europa jedoch nicht leisten. Vergessen wir nicht: Nicht nur Griechenland ist wirtschaftlich am Boden. In Finnland ist das Bruttoinlandprodukt immer noch zehn Prozent unter dem Niveau der Vorkrise-Zeit. In den baltischen Staaten sind jährlich bis zu zehn Prozent der Bevölkerung ausgewandert, hauptsächlich die Jungen und Tüchtigen. Dasselbe trifft auf Portugal zu, wo die Bevölkerung bald wieder auf das Niveau des 19. Jahrhunderts geschrumpft sein wird. Von den neuen wirtschaftlichen Verhältnissen profitiert einzig Deutschland.
Die Europäische Zentralbank kann es mit ihrer Geldpolitik alleine nicht mehr richten. Tiefe Zinsen und eine Geldschwemme sind Nothilfen, mehr nicht. Um wirtschaftlich zu gesunden, braucht nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa einen Neuanfang. Das bedeutet im Klartext ein umfangreiches Investitionsprogramm, eine Art Marshall-Plan zum Aufbau einer Infrastruktur für eine digitale Wirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Nur mit einer gesunden Wirtschaft kann eine sich abzeichnende politische Katastrophe verhindert werden. Überall sind die Populisten auf dem Vormarsch, von Frankreich (Marine Le Pen) über Holland (Geert Wilders) bis Italien (Matteo Salvini). Europa ist auf keinem guten Weg, wie die plötzlich erschreckend gleichgeschalteten deutschen Medien uns glauben machen wollen. Europa befindet sich heute in der gefährlichsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Das Nein jetzt als Vorwand zu nehmen, die Griechen aus dem Euroland oder gar aus der EU zu drängen, ist dumm. Beide Seiten würden als Verlierer dastehen: Die Griechen müssten damit rechnen, in einem wirtschaftlichen Chaos zu versinken. Und Europa würde seinen Charakter zum Schlechten ändern. Bisher hat die EU – allen Mängeln zum Trotz – als föderalistische Gemeinschaft erstaunlich gut funktioniert. Jetzt besteht die Gefahr, dass es sich in einen Zentralstaat unter Berliner Fuchtel verwandelt. Daran kann niemand ein Interesse haben, am wenigsten die Deutschen selbst.
Glaubenskriege haben die blöde Eigenschaft, lange zu dauern. Um sie zu beenden, braucht es die Fähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Das gilt für beide Seiten und könnte in der Praxis bedeuten: Die Griechen bilden trotz des Sieg der Syriza beim Referendum eine Regierung der nationalen Einheit und opfern den umstrittenen Finanzminister Yanis Varoufakis.
Genau wie Varoufakis ist auch der holländische Hardliner Jeroen Dijsselbloem als Präsident der Eurogruppe untragbar geworden. Und ja: Wenn die Deutschen es ernst meinen mit einem föderalistischen Europa, dann muss auch ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble den Hut nehmen.
Etwas anderes anzunehmen oder gar Wunder zu erwarten ist naiv, wer darauf gehofft hat ist schlicht selbst schuld.