Die Sondierungsgespräche für eine grosse Koalition in Berlin sind erfolgreich abgeschlossen, das Jammern darüber gross. Rechts wird bemängelt, dass weder Steuern massiv gesenkt noch Reformen angepackt werden. Links trauert man der Bürgerversicherung nach und beklagt die Obergrenze für die Zuwanderung.
Die Kommentare der Polit-Gurus fallen denn auch wenig schmeichelhaft aus. Ob die grosse Koalition «wirklich eine gute Idee» sei?, fragt die «NZZ» besorgt. Das «Wall Street Journal» spricht derweil von einer «Koalition der Verlierer».
Diese Kritik ist fehl am Platz, die wahre Brisanz der Einigung zwischen CDU/CSU und SPD liegt diesmal nämlich weder in der Sozial- noch in der Flüchtlingspolitik. Sie liegt in der Europapolitik. Dort liege «der grösste Anschub Deutschlands für eine kontinentale Integration seit dem Vertrag von Maastricht», stellt Wolfgang Munchau in der «Financial Times» fest.
Mittlerweile ist unbestritten, dass die EU reformiert werden muss, wenn sie weiterbestehen will. Mit einer grossen Koalition in Deutschland könnte dies gelingen, denn Angela Merkel hat zwei grosse Trümpfe in der Hand: ihre letzte Amtszeit und Emmanuel Macron.
In der letzten Amtszeit haben Politiker nichts zu verlieren. Die Kanzlerin ist befreit von der Last der Wiederwahl und beseelt vom Gedanken, Geschichte zu schreiben. Die EU wieder auf ein sicheres Fundament zu stellen, wäre genau das. Merkel kann sich dabei auf die SPD verlassen. Deren Chef Martin Schulz ist nicht nur ein überzeugter Europäer. Als ehemaliger Ratspräsident des EU-Parlaments kennt er auch die Brüsseler Verhältnisse aus dem Effeff.
Im Abschlussprotokoll der Sondierungsgespräche wird denn auch festgehalten, was bisher in Berlin nicht möglich schien: Deutschland erklärt sich bereit, das EU-Budget zu erhöhen, und zwar auch mit höheren deutschen Beitragszahlungen. So könnten angeschlagene Volkswirtschaften stabilisiert und Strukturreformen finanziert werden.
Berlin würde so endlich mit der leidigen Austeritätspolitik brechen, welche die Eurozone jahrelang ins Elend geführt hat. Deutschland würde sein Einverständnis geben, dass der europäische Stabilitätsfonds EMS Teil des EU-Budgets wird und von Brüssel verwaltet wird. Das entspricht auch dem Wunsch des Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker.
Das entspricht auch dem Willen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Sein Wahlkampf stand ganz im Zeichen von Europa, ebenso sein Wahlsieg: Als er sich von seinen Anhängern feiern liess, ertönte nicht die Marseillaise, sondern die Europahymne, Beethovens «Ode an die Freude». Aus seiner Vision hat Macron nie ein Hehl gemacht: Er will Europa zusammen mit Deutschland wieder zu einer Lokomotive der Weltwirtschaft und zu einem bedeutenden Player auf der Bühne der Weltpolitik machen.
Die Voraussetzungen dafür hat er mit einer Wirtschaftsreform teilweise bereits geschaffen. Frankreich hat gute Chancen, die Rolle des «kranken Mannes Europas» weiterzureichen.
Eine abtretende Kanzlerin, die ein Vermächtnis hinterlassen, ein junger, dynamischer Präsident, der Grosses schaffen will: Merkel und Macron könnten für Europa ein Glücksfall werden. Bleibt zu hoffen, dass es nicht am Kleinmut von Teilen der SPD scheitert.