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Der neue Nationalismus in Europa ist beides: gefährlich und lächerlich

Der neue Nationalismus in Europa ist beides: gefährlich und lächerlich

UKIP-Anführer Nigel Farage am Sonntag in London.Bild: AFP
Analyse
Die Stimmung unter den europäischen Nationen ist mies. Wenn sie nicht in die Bedeutungslosigkeit versinken wollen, müssen sie sich zusammenraufen.
27.05.2014, 13:2523.06.2014, 13:57
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Michail Schischkin, einer der führenden russischen Gegenwartsautoren, hat in der NZZ zu Europa Folgendes geschrieben: «Das Gefühl Europas als gemeinsames europäisches Haus, über das sich seine Erbauer, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, freuten, hat sich mit der Zeit aufgelöst. Das passiert mit jedem grossen Neubau. Nach der gemeinsamen ‹house warming party› verlernen es seine Bewohner allmählich, die Gemeinsamkeiten zu spüren. Alltagsprobleme und andere Wirren verhindern ein Leben in guter Nachbarschaft und trennen diejenigen voneinander, die nebeneinander wohnen. Denn was kann man schon von Nachbarn erwarten? Der eine verschmutzt den Eingang, der andere lärmt in der Nacht, der dritte zahlt die Miete nicht, und wieder ein anderer versucht mit solcher Beflissenheit die allgemeine Ordnung herzustellen, dass er allen auf die Nerven geht.»

Die Vorstellung eines Europas, in dem man gut nachbarschaftlich miteinander lebt, in dem man sich über den Gartenzaun freundlich grüsst, sich gegenseitig gelegentlich Milch und Eier borgt und in Ferienzeiten die Katze füttert, ist zwar weit verbreitet, aber sie ist gescheitert. Europa funktioniert ganz einfach nicht so. 

Wirtschaftskrise, Staatsschulden, Angst vor Überfremdung und politische Unfähigkeit haben einmal mehr dazu geführt, dass die Stimmung unter den Nachbarn auf dem alten Kontinent mies geworden ist.

Das lehrt uns die Geschichte, und das zeigt uns die Gegenwart. Wirtschaftskrise, Staatsschulden, Angst vor Überfremdung und politische Unfähigkeit haben einmal mehr dazu geführt, dass die Stimmung unter den Nachbarn auf dem alten Kontinent mies geworden ist. Ist daher eine neue Welle des Nationalismus unabwendbar geworden?

Die vernünftige Seite des Nationalismus

Nationalismus wird zu Recht als grosse Gefahr für Wohlstand und Freiheit der Menschen gesehen, doch Nationalismus ist nicht einfach nur ein Gift, das von teuflischen Menschen mit bösen Absichten verspritzt wird. Der Nationalstaat hat auch eine wichtige Funktion. Er ist der Retter in letzter Instanz in Zeiten von Wirtschaftskrisen. 

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Alters- und Arbeitslosenversicherungen, aber auch Gesundheits- und Sozialwesen sind national organisiert. Wenn sich die Menschen in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Grossen Depression hilfesuchend an den Staat wenden, dann hat das einleuchtende Gründe. Von der Wirtschaft haben sie nichts zu erwarten. Sie steht unter dem Diktat multinationaler Konzerne, die auf der Jagd nach immer happigeren Gewinnen Löhne drücken und Arbeitsplätze rationalisieren. 

Deshalb hat der Nationalismus auch eine sehr rationale Seite. Die Leistungen der einzelnen Nationalstaaten unterscheiden sich jedoch zum Teil stark. 

Trotz EU ist auch in Europa der Nationalstaat nach wie vor der Retter in letzter Instanz in Zeiten sozialer Not. Deshalb hat der Nationalismus auch eine sehr rationale Seite. Die Leistungen der einzelnen Nationalstaaten unterscheiden sich jedoch zum Teil stark. Franzosen gehen früher in Rente als Deutsche. Dänen und Schweden haben längeren Mutterschaftsurlaub als Österreicher und Italiener etc. Das schürt Neid uns Missgunst. 

Eine Harmonisierung dieser Leistungen ist daher eine Grundvoraussetzung zur Verhinderung nationalistischer Gefühle. Solange die Nordeuropäer von der Angst besessen sind, dass sie ein angebliches Faulenzerleben der Südeuropäer mitfinanzieren müssen, bleibt die Stimmung in der europäischen Nachbarschaft angespannt. 

Die irrationale Seite des Nationalismus

Die Bewältigung der rationalen Probleme allein reicht nicht. Wie die Religion hat auch der Nationalismus eine irrationale Seite. Er zapft die Ängste der Menschen an und verbindet sie mit ihren Allmachtsfantasien, eine brisante Mischung. Wie religiöse Fundamentalisten werden Nationalisten so zu Heilsverkündern mit simplen Rezepten.

Solange die Nordeuropäer von der Angst besessen sind, dass sie ein angebliches Faulenzerleben der Südeuropäer mitfinanzieren müssen, bleibt die Stimmung in der europäischen Nachbarschaft angespannt.

Bei religiösen Fanatikern lässt sich dabei ein an sich groteskes Phänomen feststellen: Gerade weil sie die Einmaligkeit ihres Glaubens herausstreichen, sind sie einander so ähnlich. Der französische Religionssoziologe Olivier Roy stellt daher fest, dass die eigentliche Trennlinie nicht zwischen den verschiedenen Religionen verläuft, sondern zwischen Fundamentalisten und Modernen. 

Folgendes Beispiel soll diese These untermauern. «In Frankreich haben sich ein Bischof, ein evangelikaler Pfarrer, ein Rabbi und ein Imam in einer gemeinsamen Erklärung gegen die Schwulen-Ehe ausgesprochen», sagt Roy. «Wir haben neuerdings auch islamische Fundamentalisten, die sich wie christliche Fundamentalisten gegen die Evolutionstheorie von Darwin wenden.»

Der internationale Nationalismus ist ein Widerspruch in den Begriffen

Das gleiche Paradox lässt sich bei Nationalisten feststellen: Stets betonen sie die Einmaligkeit ihrer Nation, doch ausgerechnet diese Einmaligkeit ist bei allen sehr ähnlich. Die Reden der Nationalisten, ihre Symbole und ihre Uniformen gleichen sich wie ein Ei den anderen. Es gibt daher so etwas, das in sich selbst ein Widerspruch ist, der «internationale Nationalismus».

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Das kann natürlich nicht sein und führt zu teils absurden Auswüchsen: Die englische UKIP will nichts mit dem französischen Front National zu tun haben, dieser wiederum nichts mit der griechischen Faschistenpartei «Goldene Morgenröte», während die «Alternative für Deutschland» sich von allen und jedem distanziert. 

Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt

Nebst den inneren Widersprüchen leiden die Nationalisten auch darunter, dass sich die geopolitische Realität gegen sie gewendet hat. Vor dem Ersten Weltkrieg war Europa der Nabel der Welt. Finanzen und Kultur wurden in London, Paris und Wien geregelt. Heute droht Europa der Abstieg in die Zweitklassigkeit. 

Die Nationalisten versuchen zwar krampfhaft, die EU dafür verantwortlich zu machen. Das ist jedoch wenig überzeugend. Brüssel ist nicht daran schuld, dass Frankreich keine «Grande Nation» mehr ist, wie der Front National behauptet. Und selbst wenn England die EU verlassen sollte, wie die UKIP das will, werden die Briten die Weltmeere nicht mehr beherrschen, wie sie es vor dem Ersten Weltkrieg taten. 

Auch hier stossen die europäischen Nationalisten auf ein Paradox: Wenn sie wieder auf der Weltbühne ein entscheidendes Wort mitreden wollen, brauchen sie ein geeintes Europa. In Asien zeichnet sich ebenfalls eine neue nationalistische Welle ab, allerdings mit ungleich viel mehr Potenzial. China und neuerdings auch Indien sind die aufstrebenden Supermächte. Auf sich alleine gestellt haben weder Deutschland noch Frankreich und Grossbritannien dem etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen.

In Asien zeichnet sich ebenfalls eine neue nationalistische Welle ab, allerdings mit ungleich viel mehr Potenzial.

Der Phantomschmerz zweier ehemaliger Weltmächte

Marine Le Pen und Nigel Farage bedienen so gesehen einen Phantomschmerz zweier Nationen in einem Niedergang, der längst besiegelt ist. Der neue Nationalismus in Europa ist daher beides: gefährlich und lächerlich. Gefährlich, weil erneut mit Emotionen gespielt wird, die leicht ausser Kontrolle geraten und dabei sehr viel Unheil anrichten können. Lächerlich, weil er weder auf die wirtschaftlichen noch auf die geopolitischen Herausforderungen der Zukunft eine Lösung bieten kann. 

Ob es uns passt oder nicht, Europa ist zur Einheit verdammt, oder wie Michail Schischkin sich ausdrückt: «Es muss aufhören, sich als Aschenputtel zu fühlen und sollte sich auf seine einheitliche Kraft und Stärke besinnen. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist viel zu klein geworden, als dass noch jedes europäische Land seinen eigenen Brei kochen und nur noch an sich selber denken könnte.» 

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