«Ich gehe wohl oft zu spät ins Bett, mache zu wenig Sport, esse zu viel Fleisch, trinke und rauche zu viel», erklärt die deutsche Trendforscherin Judith Mair fröhlich in einem Interview mit dem Migros-Magazin und zieht gleichzeitig heftig gegen Puritanismus und Askese vom Leder.
«Im Sinne des aktuellen Zeitgeists, der alles als Sünde versteht, das mit Ausschweifung, Verschwendung und Unvernunft zu tun hat, sündige ich tatsächlich häufig», erklärte sie forsch. «Mir geht es nicht primär darum, mich und mein Leben zu optimieren, ich weigere mich sogar bewusst, alles der Vernunft unterzuordnen.»
Um eines vorab klar zu stellen: Frau Mair darf saufen und rauchen so viel sie will, sie darf auch so wenig wie möglich schlafen, und ob und wie viel Sport sie treibt, interessiert auch niemanden. Geht es aber um Ernährung, dann stösst ihr angeblich so kreativer und toller Hedonismus an Grenzen, denn die Art und Weise, wie sich die westliche Welt heute ernährt, wird immer mehr zu einer der wichtigsten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Das zeigt einmal mehr der Fleischskandal aus dem Kanton Graubünden. Er ist nur die Spitze des Eisberges. Wir haben uns längst an Fleischskandale gewöhnt, weil wir zumindest ahnen, dass sie sich nicht wirklich verhindern lassen. Stillschweigend haben wir nämlich einen Pakt mit dem Teufel respektive der Fleischindustrie geschlossen, der lautet: Ihr gebt uns unser tägliches Billigfleisch, und wir schauen weg, wenn gelegentlich Ross und Rind vertauscht oder Ablaufdaten aufgefrischt werden. Und ja, wir wollen auch gar nicht so genau wissen, wie dieses Fleisch produziert wird. Es gibt ja auch in der Natur Carnivoren, und die behandeln ihre Opfer ebenfalls brutal.
Deshalb sind wir froh, wenn Trendforscher wie Judith Mair das Ganze noch weltanschaulich glätten und uns ruhig schlafen lassen. Das geht wie folgt: Wer kein Fleisch isst, ist ein kleinkarierter Spiessbürger, ja, er wird gar zum gefährlichen Sektierer. «So wird es zu einer Art Ablasshandel, regelmässig im Bioladen einkaufen zu gehen – damit befreien wir uns von unserer Schuld. Zum Kirchenbild passt auch der Missionierungseifer der heutigen Moralisten, die glauben, herausgefunden zu haben, wie das vorbildliche, moralisch unbedenkliche, risikoarme Leben auszusehen hat, und es am liebsten für alle verbindlich erklären würden», klärt uns Mair auf.
Die Art und Weise, wie wir essen, ist keine Frage der Moral, sondern eine Frage der Ökonomie. 2,1 Milliarden Menschen, fast ein Drittel aller Einwohner dieses Planeten, sind inzwischen übergewichtig, Tendenz steigend. Bis ins Jahr 2030 wird jeder zweite Erwachsene zu fett sein. Das ergab eine vom McKinsey Global Institute soeben veröffentlichte Studie.
Die volkswirtschaftlichen Folgen davon sind beträchtlich. Fettleibigkeit verursacht inzwischen etwa gleich hohe Kosten für unser Gesundheitssystem wie Rauchen. Und kein ernsthafter Ernährungswissenschaftler wird heute noch bestreiten, was der Grund der Fettleibigkeit ist: Convenience Food und Softdrinks, die Unmengen von Zucker, Salz und Fett enthalten.
Noch schlimmer ist die Ökobilanz des Fleischkonsums. In den entwickelten Staaten verzehrt jeder Bewohner jährlich rund 90 Kilo Fleisch. Die Zahlen sind umstritten, da in der Statistik Fleisch nicht immer gleich Fleisch ist. In der Schweiz liegt der Fleischkonsum übrigens bei rund 60 Kilo pro Jahr und Kopf.
Die statistischen Streitereien sind Nebenschauplätze. Tatsache ist, dass sich der Fleischkonsum in den entwickelten Staaten in den letzten 50 Jahren verdreifacht hat, und Tatsache ist auch, dass der Planet dies unmöglich verkraften kann. Es gibt zu wenig Getreide und es gibt vor allem viel zu wenig Wasser, ganz abgesehen davon, dass gerade die Rinderzucht besonders viele Emissionen von Treibhausgasen verursacht.
Trendforscherin Mair lässt dies kalt. «In Deutschland haben wir auch mal ein Wirtschaftswunder erlebt wie China heute. Da kam auch keiner und sagte: Ist ja schön, dass du dir jetzt für deine Familie Fleisch und ein Auto leisten kannst, aber werde doch lieber Vegetarier und fahr mit der Bahn, das ist besser für die Umwelt. Letztlich ist das eine neue Form von Imperialismus», sagt sie blauäugig.
Ja, die Chinesen haben ein Anrecht, so zu leben wie wir. Nur ist das bloss dann möglich, wenn wir uns darauf einigen, unseren Fleischkonsum auf ein Niveau herunterzufahren, wie es noch in den 1960er Jahren üblich war. Zudem müssen wir den Tieren, die wir schlachten, ein kurzes, aber artgerechtes Leben gewähren. Das ist nur dann möglich, wenn wir unseren Fleischkonsum massiv einschränken, wenn wir also nicht mehr zweimal täglich, sondern höchstens dreimal wöchentlich Fleisch essen.
Es wäre kein grosser Verzicht. Weniger Fleisch bedeutet keineswegs weniger Genuss. Für Spitzenköche wird Fleisch immer häufiger zur Beilage. Das derzeit wohl berühmteste Feinschmeckerlokal der Welt, Noma in Kopenhagen, serviert fast ausschliesslich vegetarische Gerichte. Und ja, welchen Hedonismus wollen wir denn? Wer Kühlschrank mit Glace, blutigen Steaks und Bier füllt, wird dafür ebenfalls Verzicht üben müssen. Ab Ü-50 wird sie oder er kein besonders aufregendes Sexleben mehr führen. Wetten?