Martin Hablützel: Das Urteil
ist eine Genugtuung für alle Asbest-Opfer, darüber hinaus richtungsweisend und
wird dazu führen, dass alte Fälle neu aufgerollt werden. Das Eis ist nun gebrochen und Schadenersatzforderungen
gegenüber Firmen wie Eternit, den SBB oder ABB sind zu erwarten. Hinterbliebene
von Asbest-Opfern erhalten mit dem Strassburger Urteil die Möglichkeit, ihre
Ansprüche geltend zu machen. Die Geschichte wird neu geschrieben.
Müssen bereits gefällte Urteile in der Schweiz revidiert werden?
Aufhebung
der nicht rechtskräftigen kantonalen Urteile und Neubeurteilung der Asbest-Fälle auf der Ebene der Bezirksgerichte – das ist die Konsequenz. Die
Gerichte werden die Fälle einer materiellen Prüfung unterziehen müssen. Sie
werden neu beurteilen, was die Verantwortlichen der asbestverarbeitenden
Industrie und der Suva in den 1970er- und 1980er-Jahren gewusst haben oder
hätten wissen müssen. Welche Schutzmassnahmen ergriffen wurden – oder eben
gerade nicht. Das Bundesgericht hat eigens vergangenen Dezember festgehalten,
dass die Asbestgefahr bereits in den 1970er-Jahren bekannt war.
Wird damit auch die zehnjährige Verjährungsfrist im Schweizer
Haftpflichtrecht hinfällig?
Das Strassburger Urteil wurde von der kleinen Kammer gefällt. Das Justizdepartement
könnte den Entscheid nun an das Gesamtgericht des europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte weiterziehen. Nachdem sechs von sieben Richtern für die Gutheissung
unserer Beschwerden stimmten, wird es sich das zweimal überlegen. In 90 Tagen ist
das Urteil rechtskräftig. Dann muss das Bundesgericht im Fall Howald Moor nochmals
darüber befinden und zwar im Sinne der Menschenrechtskonvention.
Das heisst?
Sie wird die
Beschwerde der Asbestopfer in Zivilsachen an das Bundesgericht gegen die ABB
und die öffentlich-rechtliche Beschwerde gegen die Suva gutheissen müssen und
die Sache an die Kantone zur Neubeurteilung zurückweisen.
Das Urteil ist auch von hoher gesellschaftlicher Relevanz. Es geht darum – Sie haben es erwähnt – das unrühmliche Asbest-Kapitel neu zu schreiben.
Absolut. Das
Urteil wird aber noch grössere Auswirkungen haben, die über die Asbest-Fälle
hinausgehen. In vielen Bereichen mit mutmasslichen Spätfolgen – wir sprechen
hier von Nanotechnologie, Gentechnologie oder Antennentechnologie – wären damit
Klagen auch nach Jahrzehnten noch möglich. Wir können ja heute noch nicht
absehen, welche Gesundheitsschädigungen die Nanotechnolgie dereinst
verursachen wird. In Zukunft wird man auch in diesen Feldern keine absolute
Verjährungsfrist mehr geltend machen können.
Was kommt auf die Versicherungen zu?
Die
Versicherungen haben ihrerseits für solche Schäden bereits Rückstellungen
gemacht. Diese werden nun wohl zugunsten der Asbest-Opfer verwendet. Für
anderweitige Gefahren werden die Versicherer nun von der Industrie und etwa den Handynetzbetreibern
sämtliche Studien einfordern, um ihre Risiken besser abschätzen zu können.
Der Bundesrat hat im letzten November eine Gesetzesvorlage präsentiert,
die im Bereich der Verjährung verschiedene Änderungen bringen soll. Wird der politische
Prozess in der Schweiz nun beschleunigt?
Zuerst heisst es einmal: zurück auf Feld eins. Eine Revision muss im Einklang mit dem überstaatlichen Recht und damit auch der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen. Insofern hilft dieses Grundsatzurteil, den entsprechenden internationalen Leitlinien Beachtung zu schenken. Eine absolute Verjährungsfrist – und sei es auch die im Parlament diskutierten 30 Jahre – dürfte damit vom Tisch sein.