Wer an der deutschen Grenze ein Restaurant oder einen Coiffeursalon betreibt, wer als Tessiner Unternehmer gegen die Konkurrenz aus Norditalien bestehen muss, oder wer als Bergbauer sein Brot hart verdient, wird sich kaum für einen Mindestlohn in der Höhe von 4000 Franken begeistern können. Das ist verständlich, und die Bedenken dieser Menschen müssen ernst genommen werden.
Doch darum geht es am kommenden 18. Mai gar nicht. Für die Schweizer Wirtschaft als Ganzes ist der Mindestlohn nicht nur verkraftbar. Er wird sie langfristig sogar stärker machen. Deshalb lohnt es sich auch, endlich über den eigenen, ideologischen Schatten zu springen. Aber der Reihe nach:
Ungleichheit ist zum beherrschenden sozialpolitischen Thema der Gegenwart geworden. Es geht dabei um mehr als Moral und Gerechtigkeit. Der bedeutende amerikanische Bundesrichter Louis Brandeis prägte schon in den 1930er Jahren den legendären Satz: «Wir können in diesem Land entweder eine Demokratie haben oder wir können großen Wohlstand haben, der in den Händen weniger konzentriert liegt, aber wir können nicht beides haben.»
Angesichts der aktuellen Entwicklung ist diese Feststellung erneut brandaktuell geworden. Auch unter Ökonomen ist die Ungleichheit ein heiss umstrittenes Thema. Grob gesagt haben sich zwei Lager gebildet, die Ungleichheits-Befürworter und die -Gegner.
Die Ungleichheits-Befürworter führen dabei die drei folgenden Argumente ins Feld:
Die Ungleichheits-Gegner entgegnen ihnen wie folgt:
Nun hat sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in die Diskussion eingeschaltet. Die IWF-Ökonomen haben eine weltweit riesige Datenfülle von Einkommen und Wirtschaftswachstum der einzelnen Länder analysiert und ausgewertet. Dabei sind sie zu folgendem, klaren Ergebnis gekommen: Ungleichheit schadet dem Wirtschaftswachstum und Umverteilung ist harmlos. Diese klare Aussage kommt überraschend, denn eigentlich stand der IWF lange im Ruf, eine Festung des Neoliberalismus zu sein.
Was die IWF-Ökonomen neuerdings wissenschaftlich absegnen, kann in der Realität schon lange beobachtet werden. Länder mit vergleichsweise geringer Ungleichheit verfügen über mehr Wohlstand und politische Stabilität als Länder mit grosser Ungleichheit. Japan und Südkorea beispielsweise stehen deutliche besser da als Brasilien und Mexiko. Auch Dänemark und Schweden haben die Krise vergleichsweise gut gemeistert – genau wie die Schweiz.
Das ist kein Zufall. Mit Ausnahme von Island besitzen die skandinavischen Länder eine spezielle Wirtschaftsordnung, nordisches Modell genannt. Es handelt sich dabei um die Antithese zum angelsächsischen Modell der USA und Grossbritannien. Dieses will den Einfluss des Staates und die sozialen Leistungen beschränken und die Einkommenssteuern möglichst tief halten gemäss dem Motto: Leistung muss sich lohnen.
Leistung lohnt sich auch im nordischen Modell. Deshalb sind die Unternehmenssteuern in Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland im internationalen Vergleich tief, tiefer beispielsweise als in den USA. Die Früchte dieser Leistung werden jedoch gleichmässiger verteilt. Deshalb haben die skandinavischen Länder progressive Einkommenssteuern und hohe Mehrwertsteuern vor allem für Luxusgüter. Damit können ein modernes Gesundheitswesen für alle bezahlt und anständige Sozialleistungen für Menschen in Not erbracht werden.
Das heisst keineswegs, dass im hohen Norden die Sozialschmarotzer gehätschelt werden. Im Gegenteil: In Dänemark beispielsweise können Unternehmer relativ einfach Arbeitnehmer entlassen. Dank der «Flexicurity», einem System, das flexible Arbeitsmärkte mit sozialer Sicherheit verbindet, fällt jedoch nicht in ein Loch, wer seinen Job verliert, sondern in ein Auffangnetz, das eine schnelle Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt garantiert. Das nordische Modell besitzt daher beste Voraussetzungen, die Vorteile einer globalisierten Weltwirtschaft zu nutzen und gleichzeitig die daraus entstehenden Härten sinnvoll abzufedern.
Die Schweiz hat ebenfalls eine Art nordisches Modell. So hat der wirtschaftsnahe Thinktank Avenir Suisse schon mehrmals vorgerechnet, dass die Steuerbelastung hierzulande durchaus schwedisches Niveau erreicht, wenn man die Zwangsabgaben – vor allem die Krankenkassenbeiträge – dazu zählt.
In der Schweiz wird auch sehr viel Geld umverteilt. Je rund zwei Milliarden Franken sind es beim inner- und interkantonalen Finanzausgleich. Dazu kommen die Bundessteuern und die AHV, die beide progressiv wirken, will heissen: hohe Einkommen stärker belasten. Nicht nur Geld, auch Leistungen werden umverteilt, sei es bei der SBB, der Post oder bei SRF.
Auch was den Lohn betrifft, steht die Schweiz auf der guten Seite. Anders als in Deutschland gab es bei uns keine Agenda 2010, welche die Einkommen der meisten Arbeitnehmer vermindert hat. Zudem ist der Mindestlohn in der Schweiz im Grunde genommen längst eingeführt, weil Coop und Migros schon heute 4000 Franken als Untergrenze für Vollzeitbeschäftigte kennen und damit eine Marke gesetzt haben, die nur vereinzelt unterboten wird. Die Annahme der Mindestlohninitiative wäre damit keine Revolution, sondern eine Bestätigung eines bereits bestehenden Zustandes.
Die Schweiz hat zwar ein nordisches Modell, aber sie schämt sich deswegen. Anti-Etatismus ist nach wie vor hoch im Kurs, vor allem auf dem Land, wo die Staatsbeamten, die Classe politique und Brüssel des Teufels sind und Skandinavien ein Synonym für Sozialismus ist, obwohl ausser Dänemark derzeit alle Nordländer bürgerlich regiert werden. Warum sind wir nicht stolz darauf, dass wir in einem Land leben, indem alle anständig leben können? Warum ist es nicht selbstverständlich, dass wer arbeitet, mit seinem Lohn auch seine Ausgaben bestreiten kann?
Die grosse gesellschaftspolitische Herausforderung der Zukunft besteht doch darin, gleichzeitig eine dynamische Wirtschaft und eine gerechte Gesellschaft in der Balance zu halten. Wie das nordische Modell eignet sich auch der Schweizer Föderalismus bestens dazu, diese Herausforderung zu meistern. Und dazu gehört auch ein anständiger Mindestlohn.
Ich muss sagen, ich habe Watson in den letzten Wochen sehr häufig besucht und schätze die Art der Berichterstattung sehr. Dieser Artikel ist aber das Gegenteil, von dem was ich hier lesen möchte. Er ist populistisch, völlig undifferenziert und weitgehend Zusammenhangslos! Echt schlecht!
Im Artikel werden durchaus populäre Themen wie das Nordisches Wirtschaftsmodell, die Einkommenssteuer und weitere Besteuerungsmodelle, sowie Sozialmissbrauch angesprochen und mit der Aussage verbunden, das Schweizer Volk solle doch die Mindestlohn-Initiative annehmen...
Dabei lässt der Autor jedoch ganz nebenbei ausser Acht, dass die genannten Faktoren des Nordischen Wirtschaftsmodells gar keinen direkten Zusammenhang mit einem Mindestlohn haben! Schweden hat gar keinen Minestlohn - sondern GAV. Das Land geht damit das Problem der Lohnungleichheit viel differenzierter an, als es die Initiative will!
DARUM: Nein zu Initiative und ja zu GAV für Alle!
UND liebe Watson-Redaktion: Bleiben sie differenziert!!