Auf den ersten Blick ist Wladimir Putin ein Mann auf dem Gipfel der Macht: Mit Macho-Bildern hält er sein Volk bei Laune. Alexei Nawalny, seinen wichtigsten innenpolitischen Widersacher, hat er ins Straflager verbannt. Die Opposition hat er niedergeknüppelt, und ein neues Wahlgesetz erlaubt es ihm – zumindest theoretisch –, bis 2036 im Amt zu bleiben.
So gesehen ist es mehr als besorgniserregend, wenn Putin an der Grenze zur Ukraine Truppen aufmarschieren lässt. Russland mag wirtschaftlich gesehen eine Regionalmacht sein – sein Bruttoinlandprodukt ist etwa gleich gross wie das italienische –, doch militärisch ist es nach wie vor eine Grossmacht. Zudem hat Putin mehrfach bewiesen, dass er keine Skrupel hat, von dieser Macht auch Gebrauch zu machen.
Was also führt der russische Präsident im Schilde? In der «NZZ» offeriert Andreas Rüesch gleich drei mögliche Motive: Erstens will er Wolodimir Selenski, dem Präsidenten der Ukraine, zeigen, wer Herr im Hause ist. Zweitens will er gleichzeitig Joe Biden signalisieren, dass er mit ihm rechnen muss.
Putin hat weder vergessen noch verwunden, dass Barack Obama einst Russland als «Regionalmacht» abgetan hat. Biden hat mit seiner Äusserung, Putin sei ein «Killer», diese Wunde wieder aufgerissen, zumal der US-Präsident mit seiner Körpersprache seine Verachtung für den russischen Präsidenten mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht hat.
Und drittens will Putin dem EU-Führungsduo Deutschland und Frankreich eine Botschaft übermitteln: «Moskau ist unzufrieden darüber, dass Berlin und Paris die Ukraine nicht stärker zu Konzessionen in den Verhandlungen (über das Minsker Abkommen, Anm. d. Verf.) drängen», so Rüesch.
Im Magazin «Foreign Affairs» bringt Timothy Freye eine weitere These ins Spiel. Sie lautet: Putin ist gar nicht so mächtig, wie er erscheint. Davon will er ablenken. Freye ist Politologie-Professor an der Columbia University in New York.
Gemäss Freye hat Putin in seinen 21 Jahren an der Spitze Russlands systematisch die wichtigsten Institutionen seines Landes – Gerichte, Verwaltung, Parteien etc. – geschwächt. «Daher ist Putin heute abhängig von so flüchtigen Dingen wie persönliche Beliebtheit und Methoden der Unterdrückung und Propaganda», so Freye.
Putin befindet sich damit in der gleichen Lage wie andere «starke Männer», etwa Viktor Orban in Ungarn, Nicolas Maduro in Venezuela oder Recep Tayyip Erdogan in der Türkei. Autokratische Regimes zeichnen sich aus durch hohe Korruption und schwaches Wirtschaftswachstum. Meist bestimmt ein kleiner elitärer Kreis das Schicksal des Landes.
Vermeintlich starke Männer haben eine grosse Schwäche, sie «können ihren Reichtum und ihren Einfluss nur so lange geniessen, wie sie auch an der Macht sind», so Freye. Weil sie die Institutionen des Staates unterlaufen, geraten die Autokraten zwischen Hammer und Amboss: Sie müssen gleichzeitig die Elite bei Laune und das gemeine Volk im Zaum halten.
Putin ist dieser Balanceakt lange Zeit gelungen. Der hohe Ölpreis hat es ihm erlaubt, den Oligarchen ein Leben in Saus und Braus zu ermöglichen. Auch für den russischen Mittelstand blieb genug übrig. In jüngster Zeit hingegen hat sich das Blatt gewendet. Der Zerfall des Ölpreises hat einen massiven Wohlstandsverlust des Mittelstandes zur Folge gehabt.
«Seit 2018 wankt Putins Popularität», so Freye. «Seine Zustimmungswerte bleiben zwar über 60 Prozent, aber die Russen haben deutlich weniger Vertrauen in ihn als in früheren Zeiten.»
Auch auf die Elite kann sich Putin nicht verlassen. Freye begründet dies wie folgt: «Die Kumpels von Putin sind zwar reicher geworden, als sie es sich je erträumen konnten. Trotzdem stellt die Elite eine Gefahr dar. (…) Insider, die nicht davon träumen, den Job besser zu machen, wenn sie eine Chance dazu erhalten, gibt es sehr selten.»
Dank dem hohen Ölpreis und erfolgreichen militärischen Interventionen in Georgien und der Krim konnte sich Putin allfällige Gegner vom Leibe halten. Beides lässt sich nicht so leicht wiederholen. Kommt dazu, dass Kriege sehr teuer sind und unerwünschte Nebenwirkungen zeigen: Ausländische Investoren meiden Russland. Wegen Nawalny erwägen zudem die USA und die EU neue Sanktionen.
Mit seinen militärischen Interventionen mag Putin kurzfristig die russischen Grossmachts-Träume wiederbelebt haben, «aber er hat damit auch die dringend nötigen Wirtschaftsreformen verzögert, welche die Position des Landes längerfristig stärken würden», so Freye.
Sinkender Wohlstand ist gleichbedeutend mit steigendem Frust der Bevölkerung. Putin will davon nichts wissen. Seine Sicherheitskräfte gehen immer rücksichtsloser gegen Demonstranten vor. Eine Situation wie in Belarus soll mit allen Mitteln verhindert werden, zumal im kommenden September das russische Parlament neu gewählt werden wird.
Die Aussichten für Putins Partei «Einiges Russland» sind alles andere als rosig. «Die Zustimmung für die Partei befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt», so Freye. «Deshalb wird der Kreml die Opposition mit aller Macht unterdrücken und gleichzeitig versuchen, die beiden regierungsfreundlichen Parteien, die Kommunisten und die Liberalen, bei der Stange zu halten.»
Putin ist ein sehr geschickter Taktiker und ein skrupelloser Machtmensch. Ihn abzuschreiben wäre daher verfrüht und verfehlt. Das zunehmend brutale Verhalten des russischen Präsidenten ist jedoch kaum Ausdruck seiner Stärke. «Der Trend zu mehr Repression in den letzten vier Jahren und die hohe Wahrscheinlichkeit, dass er anhalten wird, ist kein gutes Omen für Russland und seinen Führer», warnt Freye.
Durch sein Festklammern an der Macht hat sich die Korruption noch verstärkt.
Obwohl es in Russland viele sehr intelligente und gut ausgebildete Leute gibt, kommt wenig Innovatives aus Russland. Die besten Leute flüchten vor der Korruption.