Herbert Bolliger empfängt uns in seinem Büro im 19. Stock des Migros-Hochhauses am Zürcher Limmatplatz. «Ich bin nicht immer hier, sondern oft unterwegs», sagt er. Vor gut zwölf Jahren zog Bolliger hier als CEO ein. Das Büro sieht aus wie damals – die Möbel, die er von seinem Vorgänger Anton Scherrer übernommen hat, sind immer noch dieselben. «Ich habe hier nichts investiert, die Dinge müssen 50 Jahre halten.»
Herr Bolliger, können Sie sich noch
an Ihren ersten Arbeitstag hier im
Chef-Büro erinnern?
Nein. (blickt aus
dem Fenster) Aber ich erinnere mich
an die Aussicht. Das Bild hat sich komplett
verändert: Der Prime Tower ist
entstanden, die Europa-Allee – damals
stand noch die alte Sihlpost.
CEOs sind selten so lange im Amt.
Hätten Sie damals gedacht, dass
Sie das bis zur Pensionierung machen
würden?
Es ist tatsächlich lang. Aber was hätte
ich sonst machen sollen? Im Detailhandel
gibt es nichts, das spannender ist.
Die einzige Alternative wäre gewesen,
Verwaltungsratsmandate anzunehmen,
aber ich wollte mich nicht aus der operativen
Verantwortung zurückziehen.
Kommt die Verwaltungsrats-Karriere
jetzt?
Ich würde nicht von Karriere sprechen.
Aber drei Mandate – das kann ich mir
gut vorstellen.
Bei Grossunternehmen?
Die Grösse spielt keine Rolle, das Honorar
auch nicht. Es muss einfach interessant
sein und Spass machen.
Wann hatten Sie in all den Jahren
schlaflose Nächte?
Schlafen konnte ich eigentlich immer
gut. Es gab aber Entscheide, die mich
stark beschäftigt haben. Zum Beispiel
die Denner-Übernahme Anfang 2007.
Diese habe ich im Wesentlichen selber
verhandelt, den Vertrag haben wir ohne
Übernahme-Spezialisten «gebastelt».
Ich war anfänglich nicht sicher, wie unsere
Migros-Gremien – insbesondere
der Verwaltungsrat – reagieren wird,
wenn wir einen Discounter kaufen.
Die Verwaltung MGB (Verwaltungsrat)
segnete den Denner-Deal dann
ab. Liefen Sie mit anderen Projekten
auf?
Bei wichtigen Entscheiden geht man
normalerweise nicht ohne Vorgesprä-
che in das Gremium rein. Sondern man
sondiert zuerst. Bei Hotelplan kam es
einmal vor, dass wir an einem grösseren
Geschäft waren und mehrere Verwaltungsräte
das Signal aussandten:
Das ist uns zu riskant. Da zog ich es zurück.
Sie sind erstaunlich skandalfrei
durch Ihre CEO-Zeit gekommen.
Es sei denn, Ihre Zeitung hat eine knallige
Schlagzeile gebracht, wie die, dass
ich den Bauern an den Karren fahre.
Wenn das der grösste Skandal
war … Vielleicht kommt noch etwas
nach Ihrem Rücktritt. Gibt es Leichen
im Keller?
Ich warte auf die grosse Enthüllung im
nächsten Jahr. Wahrscheinlich findet jemand
heraus, dass ich überall noch beteiligt
war, am Denner, an Digitec, Globus
und so weiter. (lacht)
Wo lagen Sie rückblickend falsch?
Ich habe im Textilmarkt das Tempo unterschätzt,
mit dem die Digitalisierung
diese Branche umpflügt. Ich konnte
nicht glauben, dass ein Geschäft profitabel
sein kann, bei dem jeder zweite Artikel
zurückgeschickt wird, wie das bei
Kleider-Shops im Internet der Fall ist.
Wie fit ist heute die Migros in
Sachen Digitalisierung?
Wir sind klar am weitesten in der
Schweiz. Für mich ist jedoch klar: Die
Digitalisierung steht noch am Anfang.
Die Kadenz nimmt zu. Bei uns sind die
reinen Online-Firmen, allen voran Digitec/Galaxus,
viel weiter als diejenigen
Shops, die im Internet als Zusatz zu einem
stationären Geschäft entstanden.
Dort mangelt es oft an der Entschlossenheit,
weil man befürchtet, man nehme
den eigenen Läden den Umsatz
weg. Es gibt aber eine Ausnahme: ExLibris
macht inzwischen 60 Prozent seines
Umsatzes im Internet.
Was passiert, wenn Amazon in die
Schweiz kommt?
Bestellen kann man ja schon lange in
die Schweiz. Das ist nichts Neues. Amazon
erwirtschaftet ohne einen einzigen
Arbeitsplatz hier schon einen beträchtlichen
Umsatz. Ich kann mir nicht vorstellen,
dass Amazon in der Schweiz
ein Lagerhaus baut. Das geht von
Deutschland her günstiger.
Sind auch die klassischen MigrosLäden
mit Lebensmitteln durch
das Internet bedroht?
Die Kunden entscheiden je länger, je
weniger zwischen physischem und digitalem
Einkaufen. Mal gehen sie in den
Laden, mal lassen sie sich die Ware
nach Hause schicken. Ein Lädeli-Sterben
sehe ich aber nicht. Es könnte sogar
das Gegenteil eintreffen: eher wieder
mehr stationäre Präsenz, dafür auf
weniger grossen Flächen. Wir gehen
wieder mehr in die Quartiere.
Wird die Migros in Zukunft mehr
oder weniger Verkaufsfläche haben?
Ich sehe kein grosses Flächenwachstum
mehr. Insbesondere dürften keine
grossen Verkaufsflächen mehr entstehen.
Im Zentrum von Städten und
Dörfern verschwinden viele
Läden, auch weil vermehrt online
eingekauft wird. Ist die Migros
auch schuld an dieser Entwicklung?
Im Gegenteil. Vor zehn Jahren habe ich
Gemeinden erlebt, die Blechhallen mit
Parkplätzen vor dem Dorf bewilligten,
und sich jetzt darüber wundern, dass
sich das Dorf entleert und plötzlich
der Metzger und der Bäcker dichtmachen.
Die Gemeindepolitiker müssen
sich schon selber an der Nase nehmen.
Zudem haben viele Gemeinden die
Bauauflagen so verschärft, dass es sehr
aufwendig und teuer ist, im Zentrum
einen neuen Laden zu bauen.
Sie haben den Einstieg der
deutschen Harddiscounter erlebt.
War das die grösste Veränderung,
die Sie in Ihrer Amtszeit erlebten?
Man muss die Kirche im Dorf lassen.
Der grösste Discounter in der Schweiz
ist immer noch Denner. Wir machen
mehr Umsatz als Aldi und Lidl zusammen.
Aber der Medienhype um die
deutschen Harddiscounter war um ein
Vielfaches grösser als um Denner in
den letzten Jahren.
Haben Sie mal gehofft, dass sich die
beiden wieder zurückziehen?
Nein, damit habe ich nie gerechnet. Die
Besitzer haben mehr als genug Geld,
um lange durchzuhalten. Es ist auch
selten, dass sie sich aus einem Land zurückziehen.
In der Schweiz haben sie
den Markt bewegt und sind hier inzwischen
eine feste Grösse.
Der Preiskampf scheint inzwischen
eingeschlafen. Was ist geschehen?
Die Preise wurden in den letzten Jahren
bei vielen Produkten, vor allem auch
bei Pflegeprodukten gesenkt. Zudem
gab es eine Verschärfung bei den Rabatten.
Heute werden Produkte nicht
mehr nur 20 Prozent gesenkt, sondern
gleich um 50 Prozent. Das ist eine völlig
neue Entwicklung.
Stand je zur Debatte, das soziale
Engagement wie zum Beispiel das
Kulturprozent wegen der harten
Konkurrenz durch Aldi oder den
Einkaufstourismus herunterzufahren?
Diese Diskussion kam nie auf. Das kulturelle
und soziale Engagement der Migros
ist wichtig und macht uns einzigartig.
Zudem bringt es uns in Umfragen
immer beste Reputationswerte
ein. Es wäre falsch, das über Bord zu
werfen.
Unter Ihnen ist die Migros stark
gewachsen. Der Umsatz stieg von
20 auf 27 Milliarden Franken.
Der Marktanteil kletterte von 18
auf 22 Prozent. Gibt es überhaupt
noch Wachstumspotenzial in
der Schweiz?
Wir wollen zum Beispiel den Bereich
Gesundheit ausbauen. Auf unserer Internet-Plattform
Impuls ist ersichtlich,
in welchen Gesundheitsbereichen wir
bereits aktiv sind. Dort führen wir die
Themen Ernährung, Bewegung, Sport
und Prävention zusammen und bieten
viele gute Dienstleistungen und
Tipps an. Wachsen wollen wir selbstverständlich
auch mit den Onlineshops
Digitec und Galaxus, zudem
müssen wir bei den Lebensmitteln die
gestiegenen digitalen Kundenbedürfnisse
besser abdecken, indem wir den
stationären Laden mit Le Shop verbinden.
Das Wachstum ist zwar gut für
die Migros, aber ist das auch gut für
die Schweiz?
Das ist natürlich sehr gut für alle. Denn
je höher unser Umsatz ist, desto mehr
können wir fürs Kulturprozent ausgeben.
Für die Schweiz ist unsere Grösse
überhaupt kein Problem. Die Migros gehört
ja zwei Millionen Genossenschaftern.
Das ist etwas ganz anderes, als
wenn die Migros einer einzigen Familie
gehören würde.
Ist die Migros too big to fail für
die Schweiz, also zu gross, um zu
scheitern?
Wenn schon sind wir «too loved to fail»
(lacht). Die Migros wird von vielen
Menschen mit positiven Gefühlen verbunden,
sie hat einen Herzwert, das
können nicht viele Firmen von sich behaupten.
Wie wird das Weihnachtsgeschäft?
Wir sind nicht schlecht unterwegs. Eine
Unsicherheit ist, dass wir im Dezember
wegen der Feiertagskonstellation zwei
Verkaufstage weniger haben. Meist bedeutet
das weniger Umsatz. Aber ich
hoffe natürlich, dass es sich die Menschen
hier in der Schweiz gut gehen
lassen, sich etwas gönnen und ihre
Kühlschränke mit feinen Migros-Produkten
füllen.
Und welche Erwartungen haben Sie
fürs kommende Jahr?
Da sind wir eher vorsichtig. Aufgrund
des laufenden Jahres kann ich mir nicht
vorstellen, dass der Konsum stark anziehen
wird. Bei den Preisen sehe ich
eine kleine Bewegung nach oben.
Das wäre eine historische Wende.
Jahrelang gingen die Preise ja nur
runter.
Das wäre tatsächlich so. Dieses Jahr ist
die Preisentwicklung immer noch
leicht negativ, bei etwa minus 0,3 Prozent.
Ich gehe davon aus, dass es
nächstes Jahr Anpassungen nach oben
geben wird. Das hat auch mit dem
schwächeren Franken zu tun, der Importe
wieder verteuert. Vor allem Produkte
aus dem Euroraum wieder etwas teurer.
Mit Ihrem Abgang rückt eine Frau
in die Generaldirektion nach, die
unter Ihnen ein reiner Männerklub
war. Warum ist der Frauenanteil
so klein?
Das greift zu kurz, da die Migros ein
sehr grosses Unternehmen ist. Über
den ganzen Konzern betrachtet, haben
wir nämlich viele Frauen in Führungsfunktionen.
Zum Beispiel hier am Limmatplatz
führt eine Frau eine grosse
Migros-Filiale. Sie verantwortet einen
Millionen-Umsatz und führt etwa 70
Mitarbeitende. In andern Unternehmen
wäre sie Mitglied der Direktion.
Ich bin überzeugt: Die Voraussetzungen,
dass der Frauenanteil steigt, sind
heute so gut wie noch nie. In unseren
Traineeprogrammen für Hochschulabsolventen
ist die Mehrheit heute weiblich.
Die Migros ist als Genossenschaft
organisiert. Ist die heutige Struktur
überhaupt noch zukunftstauglich?
Gegenfrage: Glauben Sie, dass die
Schweiz mit ihrem direktdemokratischen
Modell noch zukunftstauglich
ist?
Ein Unternehmen ist aber kein
Staat.
Solange die Schweiz eine Zukunft hat
mit ihrer Struktur hat auch die Migros
eine.
Aber im Unterschied zu den
Stimmbürgern können die Genossenschafter
nicht wirklich mitbestimmen.
Die meisten Genossenschafter
dürften nicht mal wissen,
dass ihnen die Migros gehört.
Wie kommen Sie denn da drauf? Unsere
Genossenschafter wissen, dass sie
die Besitzer der Migros sind. Ich gebe
Ihnen aber recht, wir müssen sie noch
stärker einbinden. Da gibt es tatsächlich
ein Potenzial, das brachliegt und
das wir in Zukunft vermehrt nutzen
müssen. Auf Social Media und anderen
Kanälen sind unsere Kundinnen und
Kunden schon sehr aktiv. Da beziehen
wir sie bereits stark ein.