Über das Pfingstwochenende scheint sich die neue Regierung Italiens gebildet zu haben: Premierminister wird Giuseppe Conte, ein weitgehend unbekannter Anwalt und Professor. Er ist der Kompromisskandidat der beiden starken Männer, von Luigi Di Maio, dem Führer der Cinque Stelle und Matteo Salvini, dem Führer der Lega.
Die beiden haben sich darauf geeinigt, dass Di Maio Wirtschafts- und Salvini Innenminister wird. So können sie die zentralen Anliegen ihrer Partei umsetzen. Cinque Stelle will ein Grundeinkommen für die Armen, die Lega rund 500’000 Flüchtlinge ausweisen.
Nüchtern betrachtet hat die neue Regierung kaum eine Chance. Zu unterschiedlich sind die Interessen, die sie unter einen Hut bringen muss. Cinque Stelle ist eine Bewegung, die von links kommt. Die Lega kommt von weit rechts. Was die beiden verbindet, ist der Hass auf die EU, die Liebe zu Putin und esoterische Anliegen wie ein tiefes Misstrauen gegen das Impfen.
Die neue Regierung hat im liberalen Europa eine sehr schlechte Presse. Der «Economist» beispielsweise spricht von einer Koalition, die «exzentrisch, idealistisch, fremdenfeindlich und wirtschaftlich illiberal», sei. Kein Wunder also, dass die neue Regierung bereits unter Druck der Finanzmärkte geraten ist. Die Zinsen der italienischen Staatsanleihen befinden sich im Steigflug.
Die Finanzmärkte können ein sehr mächtiger Gegner einer Regierung sein. James Carville, der ehemalige Wahlkampfleiter von Bill Clinton, pflegte zu sagen: «Im nächsten Leben will ich als Obligationenmarkt auf die Welt kommen. Die haben die wahre Macht.» In Italien hat dies auch Silvio Berlusconi zu spüren bekommen. Er musste zurücktreten, als die Zinsen der italienischen Staatsanleihen nach der Finanzkrise in die Höhe schossen.
Die vernünftigen Kräfte hoffen deshalb, dass der Obligationenmarkt auch die neue italienische Regierung in die Knie zwingen wird. Di Maio und Salvini wären dann ein kurzes Zwischenspiel gewesen, mehr nicht. Es könnte jedoch auch ganz anders kommen, und das sind die Gründe:
Italien ist der grosse Verlierer des Euro und der Austeritätspolitik. Die ökonomischen Eckdaten sind eine eigentliche Liste des Schreckens: Italien hat das geringste Wirtschaftswachstum in der EU, es hat in absoluten Zahlen die höchste Staatsverschuldung, es hat ein marodes Bankensystem und es hat die schlimmste Arbeitslosigkeit.
In Italien gibt es in absoluten Zahlen gesehen dreimal mehr Erwerbslose als in Griechenland. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass in Italien auch die Ablehnung des Euro am stärksten ist in Euroland, stärker noch als in Griechenland.
Anders als Griechenland kann Italien auch nicht mit Hilfskrediten aus der Patsche geholfen werden. Es ist viel zu gross. Die italienische Volkswirtschaft ist die viertgrösste in Europa.
Die neue Regierung will das alles ändern. Sie hat dabei keine Angst vor den Finanzmärkten. Im Gegenteil: «Für jemanden wie Herr Salvini ist eine Finanzkrise keine Bedrohung, sondern ein Versprechen», stellt Wolfgang Münchau in der «Financial Times» fest. «Ein Versprechen, das es ihm möglich macht, aus dem Euro auszutreten.»
Verfassungsrechtlich kann Italien den Euro nicht verlassen, weil eine Regierung bestehende Verträge achten muss, ausser in einem Notfall. Eine Finanzkrise könnte jedoch als solcher Notfall bezeichnet werden. Das würde es erlauben, dass die neue Regierung in Italien wieder die Lira als Parallelwährung zum Euro einführt.
Dieses Szenario ist keineswegs unrealistisch: «Wir wissen, dass Salvini die Bedingungen für einen Ausstieg aus dem Euro schaffen will», warnt Münchau.
Ein Ausstieg Italiens aus dem Euro würde eine Schockwelle in Europa auslösen. Für die Italiener hingegen könnte es ganz anders aussehen. Mit einer schwachen Lira wäre die Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig. Die Regierung könnte ohne Aufsicht der Europäischen Zentralbank ein gewaltiges Defizitprogramm auflegen, so für neue Arbeitsplätze sorgen und damit die Basis legen, um lange an der Macht zu bleiben.
Auf diese Weise hat sich der Begründer des Faschismus, Benito Mussolini, in den 20er-Jahren an der Macht gehalten. Adolf Hitler hat in den 30er-Jahren so die Arbeitslosigkeit in Deutschland besiegt.
Die Cinque Stelle und die Lega sind möglicherweise im Begriff, das Modell für einen Faschismus im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Es ist ihnen gelungen, die grosse Enttäuschung über die liberale Politik für sich zu instrumentalisieren, und sie haben erkannt, dass sich die Wähler um Widersprüche futieren.
Deshalb müssen weder diese Widersprüche noch der Druck der Finanzmärkte das baldige Ende der seltsamen Regierung Italiens bedeuten. «Es ist genauso möglich, dass nationale Politik ein Flickwerk von an sich nicht kompatiblen, sich konkurrenzierenden Ideen wird; und dass sehr unterschiedliche Gruppen sich online treffen und temporäre Allianzen bilden», stellt die Historikerin Anne Applebaum in der «Washington Post» fest. «Es ist genauso wahrscheinlich, dass Verantwortungslosigkeit und Irrationalität zu etwas werden, was die Menschen wollen und nicht zurückweisen.»