Edinburgh: Nieselregen, 14 Grad. Die Wetteraussichten sind schlecht. Nach dem Abstimmungstag zeigt sich Schottland von seiner garstigen Seite und man möchte fast glauben, genau so trübe müsse es auch in den Herzen der Verlierer aussehen. Grau, nass, kalt. Nein, Schottland hat gestern nicht Geschichte geschrieben und der Traum von der Unabhängigkeit, den zumindest 46 Prozent der Stimmberechtigten hegten, ist jäh geplatzt.
Während die Nationalisten ihre Wunden lecken, ist die Erleichterung in den Gesichtern der Unionisten kaum zu übersehen. Nichtsdestotrotz, von Schadenfreude zu reden wäre vermessen und Katerstimmung will bei den trinkfreudigen Bravehearts nicht wirklich aufkommen. Denn Schottland, so scheint es, hat mit dem gestrigen «No» zum Referendum mehr gewonnen als verloren – auch wenn das all jene, die sich die Briten und mit ihnen die gepuderten Macker vom Westminster zum Teufel wünschten, noch nicht glauben können.
Regierungschef Alex Salmond sagte in seiner Rede nicht ohne Pathos, dass er ein unabhängiges Schottland zu seinen Lebzeiten wohl nicht mehr erleben werde. Zumindest damit wird Salmond, der dem Land Milch und Honig versprach, wohl Recht behalten. In den Strassen Edinburghs bewahrt man derweil kühlen Kopf. «Es ist, wie es ist», sagen viele, nicken und lächeln freundlich. Es ist eine Tugend der Schotten, nicht nachtragend zu sein. Man ist ganz einfach erschöpft und ausgelaugt von einer zweijährigen Kampagne, die die politischen Wogen im Land hochgehen liess.
Beth ringt sich zu einem Lächeln durch. Eigentlich sei sie ein frohes Gemüt, sagt die 62-jährige Künstlerin, die für den grossen Tag, der jetzt keiner ist, von Oban angereist ist. Und eigentlich möchte sie gar nicht reden, nach dieser Nacht, nach dem vielen Rotwein, dem Whisky danach, dem wenigen Schlaf und überhaupt. «Machen wir einfach so weiter wie bisher? Ich kann es noch immer nicht fassen.» Sie frage sich, weshalb die Mehrheit des schottischen Volks diese grosse Chance nicht genutzt habe. «Wir, die die Unabhängigkeit wollten, hatten eine Vision. Das Land war von einem grossen Optimismus erfasst. Es herrschte Aufbruchstimmung», sagt Beth. Doch die Angst, das Rückständige hätte schliesslich obsiegt. «Und jetzt?»
Courant normal. An diesem Freitag, dem 19. September, ist es so wie an jedem 19. September in Edinburgh, herbstlich und ein ganz normaler Arbeitstag. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass die Strassenkehrer die letzten Yes-Parolen von den Wänden kratzen und die blau-weissen Ballone, die gestern noch Läden, Pubs und Kinder schmückten, verschwunden sind. In den Strassen Edinburghs kehrt die Normalität ein – von Old Town bis New Town.
Kirstin packt das Schild, auf dem in grossen blauen Lettern «Yes» prangt, in ihr rotes Auto. «Vorbei, aus», sagt die 40-jährige Buchhändlerin aus Glasgow. Schottland weine und diese Tränen würden nie trocknen. «Wir hatten grosse Hoffnung, Hoffnung auf eine neue Ära. Doch nun bleibt alles beim Alten. Ich könnte kotzen.» Trotzdem werde sie die Kraft nicht verlieren, für ein freies Schottland zu kämpfen, betont sie. «Wenn Cameron meint, wir seien von nun an wieder zahm, hat er sich geschnitten. Dann kennt er die Schotten nicht, dieser versnobte Engländer.»
Duncan tritt dazu und herrscht Kirstin an: «Go home! It's over!» Kirstin schüttelt den Kopf, steigt ein und braust davon. Duncan ist 41 und fühlt sich heute pudelwohl. «Was für ein Tag», sagt der Berufssoldat aus Edinburgh. «Was hätte das eigentlich sollen, diese naive Zwängerei von wegen Unabhängigkeit und so. Die sollen jetzt mal richtig schön den Mund halten.» Er fühle sich erlöst von der Dummheit der Befürworter des Referendums. «Jetzt können wir wieder richtig Politik machen mit England zusammen in einem Königreich», sagt Duncan.
Solche Szenen sieht man selten. Man lässt einander in Ruhe, schliesslich fliesse schottisches Blut durch alle schottischen Adern, sagt ein Ladenbesitzer an der Rose Street. Man müsse sich jetzt eben zusammenraufen, dürfe nicht nachtragend sein und die Zusammenarbeit suchen. Diesen Satz hört man in Edinburgh oft. Man hat keine Lust zu streiten – besser man setze sich in einen Pub, trinke ein Ale und rede, sagt ein Busfahrer.
Reden, das will auch die 18-jährige Rachel. Sie habe sich für die Ja-Kampagne richtig ins Zeug gelegt. Nun will die Verkäuferin aus Sterling herausfinden, was schief gelaufen ist. Man habe solch tolle Arbeit geleistet. «Und immerhin haben 46 Prozent der Schotten für das Referendum gestimmt. So schlecht ist das nicht.» Diese 46 Prozent sollten Westminster zu denken geben, meint Rachel. Sie hofft, dass London seine Versprechen auch wirklich in die Tat umsetzen und Schottland mehr Autonomie in verschiedenen Sektoren zugestehen wird.
Genau das hat der britische Premier David Cameron im Vorfeld der Abstimmung versprochen, sollten sich die Schotten beim Referendum gegen die Unabhängigkeit entscheiden. Dieser Fall ist nun eingetreten. Westminster tut gut daran, sich an diese Abmachungen zu halten, um den Burgfrieden zu wahren. «Wenn sie das nicht tun, können wir auch anders», sagen die Menschen auf der Strasse – egal, welchem Lager sie angehören.