Herr Ferroni, in Zürich herrscht Aufregung, weil Sozialhilfebezügern die Leistungen bei Besitz eines Autos gekürzt werden sollen.
Andrea Ferroni: Davon habe ich gehört, ja.
Verstehen Sie denn die heftige Auseinandersetzung, die es in Zürich um die Autofrage bei Sozialhilfebezügern gibt?
Es mag grundsätzliche Überlegungen geben in den verschiedenen politischen Lagern, dieses Thema aufzukochen. Aber aus bündnerischer Sicht ist das Thema klar: Sozialhilfebezüger dürfen – ausser in klar definierten Ausnahmen – über kein Auto verfügen, sonst sind sie keine Sozialhilfebezüger.
Warum nicht?
Niemand, der noch über ein Vermögen von über 4000 Franken verfügt, ist berechtigt, Sozialhilfe zu beziehen. Ein Auto zählt als solcher Vermögenswert, und es ist meistens mehr wert als 4000 Franken.
Nun könnte man argumentieren, in Basel oder Zürich seien die Wege kurz und der ÖV gut ausgebaut. Aber in Graubünden ist das ja anders. Führen Ihre Bestimmungen nicht zur weiteren Vereinsamung von Sozialhilfebezügern in abgelegenen Tälern?
Soziale Kriterien spielen bei diesen Überlegungen überhaupt keine Rolle. Was den Besitz eines Autos rechtfertigt, kann nur der Umstand sein, dass der betreffende Sozialhilfebezüger damit seine finanzielle Selbständigkeit verbessern kann und dadurch weniger Sozialhilfegelder benötigt. Die Finanzierung eines Autos zwecks psychologischen Benefits sind sachlich nicht begründet und politisch nicht vermittelbar.
Mir schon.
Aber sonst niemandem. Soll man einem arbeitslos gewordenen Berufschauffeur ein Auto zugestehen, nur weil es Teil seiner Lebensidentität ist, tagein tagaus auf schweren Motoren zu sitzen? Auf keinen Fall. Allenfalls könnte man berücksichtigen, dass jemand sehr günstig, weil sehr abgelegen wohnt. Dann sind die Mietkosten sehr tief, was die Kosten für ein Fahrzeug wettmachen könnte. Insbesondere wenn er anders nicht rechtzeitig zur Arbeit kommt.
Wie sieht es mit Carsharing aus? Wäre das nicht günstiger als ein eigenes Fahrzeug?
Es mag sein, dass unsere Sozialarbeiter das im einen oder anderen Fall prüfen. Aber Sie haben schon eine sehr städtische Sicht der Dinge. Es gibt in Disentis oder Poschiavo vermutlich nicht an jeder Ecke einen Mobility-Standort.
Richtig. In anderer Hinsicht hat Graubünden aber auch städtisch anmutende Probleme.
Welche meinen Sie?
Steigende Mieten zum Beispiel, besonders im Oberengadin. Hohe Mietpreise sind ein massgeblicher Grund für die steigenden Sozialhilfekosten. Spüren Sie das in Graubünden auch?
Nicht im Oberengadin, wo die Mietpreise in den letzten Jahren tatsächlich hoch sind. Wir haben dort eine sehr tiefe Sozialhilfequote. Grundsätzlich ist es so, dass jemand, der Sozialhilfe bezieht, sich in seiner Gemeinde eine günstigere Bleibe suchen muss, wenn er nicht mehr in der Lage ist, den Zins zu zahlen. Die Höchstlimite für den pauschalisierten Grundbedarf für die Miete legen die Gemeinden selber fest.
Dennoch hat auch Graubünden steigende Sozialhilfekosten.
Das ist richtig. Der wichtigste Faktor für den Kostenanstieg ist aber wie in den meisten Kantonen die zunehmende Verweildauer der Bezüger in der Sozialhilfe. Und dazu führen die hinlänglich bekannten strukturellen Veränderungen im Arbeitsmarkt und nicht in erster Linie Autos in Besitz von Sozialhilfebezügern.
Wie viele Sozialhilfefälle hat der Kanton Graubünden und wie viele davon besitzen ein Auto?
Wir haben etwas über 1400 Dossiers. Davon erfüllen eine Handvoll Einzelfälle die gesetzlichen Voraussetzungen, ein Auto zu besitzen.
Wie strikt ist das Verbot?
Es galt ein faktisches Verbot, wenn jemand nicht aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen darauf angewiesen ist. Bis zu einem Entscheid des Verwaltungsgerichtes im Jahr 2012 wurden Betriebskosten und Vermögenswert des Fahrzeuges im Sozialhilfebudget angerechnet. Dies führte zu einer Kürzung oder zum Ausschluss aus der Sozialhilfe.
Mit welcher Argumentation hat das Verwaltungsgericht die Regelung des Sozialamtes Graubünden aufgeweicht?
Die Dispositionsfreiheit, also die freie Entscheidung, wie jemand sein Geld nutzen wolle, dürfe auch für Sozialhilfebezüger nicht eingeschränkt werden.
Wie sieht Ihre Regelung jetzt aus?
Sozialhilfebezüger, die ein Motorfahrzeug besitzen und benutzen wollen, ohne beruflich oder aus gesundheitlichen Gründen auf ein solches angewiesen zu sein, müssen von sich aus nachweisen, dass sie nicht über zusätzliches Einkommen oder Vermögen verfügen und die Unterstützung nicht zweckentfremdet wird.
Wie streng sind die Bestimmungen?
Sehr streng. Wer berufstätig ist, muss nachweisen, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, mit dem öffentlichen Verkehr rechtzeitig zur Arbeit oder nach der Arbeit wieder nach Hause zu kommen. Wer krank ist oder eine Behinderung hat, muss ebenfalls nachweisen, dass er ohne Auto erheblich eingeschränkt ist, weil er keinen ÖV benutzen kann.
Ausserdem spielt es nicht nur eine Rolle ob ich für den Arbeitsweg das Auto brauche sondern grundsätzlich für die Ausübung vom Job.
Solche arroganten Beamte machen das Leben betroffener schwer ohne gesetzliche Grundlage.