Der Nationalrat hat mit einer Monsterdebatte begonnen, die es in sich hat. Während fünf Tagen berät er über die Energiestrategie 2050. Sie soll die Energieversorgung in einer Schweiz ohne Atomkraftwerke definieren. Die von SVP und FDP beantragte Rückweisung an den Bundesrat lehnte die grosse Kammer am Montag ab. Worum geht es bei dem Grossprojekt? Ein Überblick:
Nach der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 hatte der Bundesrat beschlossen, dass in der Schweiz keine neuen Atomkraftwerke gebaut werden sollen. Das Parlament bestätigte die «Energiewende» noch im selben Jahr. Damit wurden die Pläne verschiedener Stromkonzerne für den Bau eines neuen AKW obsolet.
Weil die Kernkraft rund 36 Prozent des Stromverbrauchs in der Schweiz abdeckt, müssen Alternativen gefunden werden. Das Departement Uvek von Bundesrätin Doris Leuthard entwickelte die Energiestrategie 2050. Das erste von zwei geplanten Massnahmenpaketen wird nun vom Nationalrat behandelt.
Um die Zukunft der fünf Kernreaktoren in der Schweiz (Beznau 1 und 2, Mühleberg, Gösgen, Leibstadt) geht es erst gegen Ende der Beratungen. Erwartet wird, dass der Nationalrat den Ausstiegsentscheid bestätigt. Umstritten ist die Laufzeit der AKWs. Die zuständige Kommission hat entschieden, dass die Betreiber nach 40 Betriebsjahren ein Langzeitkonzept vorlegen müssen, das zusätzliche Sicherheitsauflagen erfüllt.
Bewilligt die Aufsichtsbehörde ENSI das Konzept, soll das AKW zehn weitere Jahre am Netz bleiben dürfen, mit Aussicht auf eine weitere Verlängerung. Die Grünen dagegen fordern mit ihrer Ausstiegsinitiative die Stillegung der Atomkraftwerke nach spätestens 45 Jahren Betriebsdauer. Im Fall von Beznau und Mühleberg wäre dies bereits 2017 der Fall. Über die Initiative wird der Nationalrat am Schluss beraten.
Der Bund fördert die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien mit der kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV). Das Geld reicht heute jedoch bei weitem nicht aus, mehr als 30'000 Projekte stehen auf der Warteliste. Deshalb will der Bundesrat den Netzzuschlag erhöhen, aus dem die KEV finanziert wird, und zwar von 1,5 auf 2,3 Rappen pro Kilowattstunde.
Doris Leuthard rechnete am Dienstag vor, dass die neue Obergrenze maximal Kosten von 100 Franken pro Jahr für einen Vierpersonenhaushalt bedeute. Die KEV soll aber auch marktnäher werden: Wer Strom liefert, wenn er am dringendsten gebraucht wird, erhält mehr Geld. Der heute minimale Anteil der «neuen Erneuerbaren» (Sonne, Wind, Geothermie, Biomasse) am Strommix soll bis 2050 auf 25 Prozent ansteigen.
Strom aus Wasserkraft gilt als «weisses Gold» der Schweiz, er liefert 57 Prozent des Bedarfs. Seit die Strompreise in Europa stark gesunken sind, wird der Betrieb der Kraftwerke zunehmend unrentabel. Auf Drängen der Branche sollen grosse Wasserkraftprojekte Subventionen erhalten. Der Nationalrat hat am Dienstag gegen den Widerstand von Doris Leuthard zugestimmt.
KEV-Beiträge sollen nur Werke mit einer Leistung zwischen 1 und 10 Megawatt erhalten. Bei der Untergrenze soll es aber Ausnahmen geben für Werke in bereits genutzten Gewässerstrecken. Umweltverbände sind gegen Kleinkraftwerke, sie befürchten Schäden für die Landschaft. Aus dem gleichen Grund wehrten sich SP und Grüne im Nationalrat vergeblich gegen die Öffnung von Naturschutzgebieten für den Bau von Wasser-, Wind- und Solarkraftwerken.
Jahrelang stieg der Energieverbrauch pro Kopf in der Schweiz stark an, seit 2005 ist er rückläufig. Der Bundesrat will diese Entwicklung vorantreiben und ihn bis 2035 um 43 Prozent senken. Neben Massnahmen wie Gebäudesanierungen und Vorgaben für Autoimporteure soll der Ersatz ineffizienter Elektrogeräte forciert werden. Dies ist jedoch eine zweischneidige Sache, denn mehr Energieeffizienz führt häufig zum so genannten Rebound-Effekt: Wer ein Hybridauto kauft, verbraucht weniger Benzin, fährt aber oft mehr und ist unter dem Strich nicht sparsamer.
Weil diese Massnahmen nicht genügen, will der Bundesrat die Stromlieferanten mit Zielvorgaben in die Pflicht nehmen. Das heutige System setzt falsche Anreize, es fördert die Produktion und nicht das Stromsparen. Eine Minderheit der Nationalratskommission will bei den Netzbetreibern ansetzen und ein Bonus-Malus-System einführen, damit diese die Effizienz bei ihren Kunden fördern. Die Beratungen finden am Mittwoch statt.
Das erste Massnahmenpaket ist nur der Anfang der Energiestrategie 2050. Der grosse Reformwurf soll in einem zweiten Schritt erfolgen: Ab 2021 soll eine Lenkungsabgabe das heutige Förder- und Subventionssystem ersetzen. Der Bundesrat will seine Vorschläge im nächsten Frühjahr präsentieren.
Am 8. März wird zudem die Volksinitiative «Energie- statt Mehrwertsteuer» der Grünliberalen zur Abstimmung kommen. Diese will die Mehrwertsteuer abschaffen und durch eine Steuer auf nicht erneuerbare Energien ersetzen. Bundesrat und Parlament lehnen sie ab.
Genaue Angaben sind nicht vorhanden. In letzter Zeit kursierten verschiedene Zahlen. Der Wirtschaftsverband Economiesuisse berechnete die Kosten auf 28 Milliarden Franken. Der Basler Okonom Silvio Borner geht in einer Studie sogar von 100 Milliarden aus. Dies bedeute Mehrkosten von 40'000 Franken pro Familie und sei volkswirtschaftlich nicht zu verkraften, schreibt die Basler Zeitung.
Die AKW-kritische Schweizerische Energie-Stiftung (SES) kontert mit einer eigenen Studie. Bei einer konsequenten Umsetzung der Energiewende könnten demnach die Importe von Uran, Gas und Öl enorm reduziert werden, dank den erneuerbaren Energien und einem sinkenden Verbrauch. Bis 2050 könnten so 280 Milliarden Franken eingespart werden, sagte SES-Projektleiter Felix Nipkow der Nordwestschweiz.
Die Energiestrategie 2050 soll ohne Verfassungsänderung und damit ohne obligatorische Volksabstimmung umgesetzt werden. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass gegen einen oder mehrere Teile das Referendum ergriffen wird. Die Parteien halten sich noch bedeckt, allerdings hat die FDP eine Petition «Energiestrategie vors Volk» lanciert. Der Verein «Kettenreaktion», der aus Kernenergie-Befürwortern besteht, will Unterschriften gegen ein AKW-Verbot sammeln. Auch ein Referendum gegen den höheren Netzzuschlag für die KEV ist möglich: Der Gewerbeverband hat dazu Bedenken angemeldet.