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Auf der Suche nach dem Schwarzarbeiter im Tessin

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DUMPINGLÖHNE

Auf der Suche nach dem Schwarzarbeiter im Tessin

In keinem Kanton sorgen Grenzgänger derart für Unmut wie im Tessin. Die Angst vor Dumpinglöhnen geht um. Unterwegs mit einem Arbeitsmarktinspektor nimmt die «Nordwestschweiz» das Baugewerbe in Augenschein.
07.03.2014, 10:3507.03.2014, 12:22
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Antonio Fumagalli, die nordwestschweiz
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Bruno Zarros Auto ist unscheinbar. Klein, grau, ohne Aufkleber – perfekt für einen Arbeitsmarktinspektor. Niemand schöpft Verdacht, wenn Zarro den Wagen vor den Absperrungsgittern der Tessiner Baustellen parkiert. «Buongiorno», ruft der Leiter der branchenübergreifenden Kontrollvereinigung AIC, zieht seinen Helm an und betritt über eine Passerelle das Erdgeschoss eines Neubaus hoch über Lugano. Drei Arbeiter spritzen aus einer ohrenbetäubenden Maschine Mörtel auf die Backsteinmauer. Erst als Zarro nähertritt, bemerken sie ihn.

«Arbeiten Sie für die Firma Bedretti* aus Como*?», fragt er freundlich, aber bestimmt. Die Männer nicken. Der Inspektor weist sich aus, verlangt von ihnen dasselbe und legt alle Dokumente auf die Ablagefläche seines Autos. Schnell wird klar: Mit Ausnahme einer Bagatelle sind die Dokumente in Ordnung, die drei Gipser aus Rumänien, Albanien und Mazedonien arbeiten legal im Tessin.

Das gilt freilich längst nicht für alle, die als sogenannte «Dienstleistungserbringer» (siehe Infobox) in den Südkanton strömen. Nicht nur ist deren Zahl förmlich explodiert, auch die Anzahl der Verstösse hat in den letzten Jahren zugenommen. Alleine im Bau- und Handwerksektor, für den Zarro und sein Team zuständig sind, erwischten sie 723 Firmen, die sich nicht gesetzeskonform verhielten – also fast drei pro Arbeitstag. Etwa 70 Prozent der Kontrollen führen sie aufgrund eingegangener Online-Meldungen durch. Der Rest ist Intuition – «il buon naso», die gute Nase, wie Tessiner zu sagen pflegen – und Hinweise, die häufig von lokalen Bauunternehmern eintreffen.

Die Bandbreite der Verfehlungen ist breit, sie reicht von simplen Anmeldefehlern bis hin zu willentlich gefälschten Lohnabrechnungen. Ein besonders krasser Fall ereignete sich 2011 ausgerechnet auf der Vorzeige-Baustelle des neuen Kulturzentrums LAC in Lugano: Zwei Vorgesetzte zwangen ihre Angestellten aus dem italienischen Grenzgebiet damals, den Erhalt der vertraglich korrekten Löhne zu unterschreiben, in Wirklichkeit knöpften sie ihnen aber einen Teil davon wieder ab. Die Machenschaft flog auf und die beiden Männer wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen wegen Wuchers verurteilt. «Der Kreativität der Betrüger sind keine Grenzen gesetzt – zum Nachteil der vielen, die sich gesetzeskonform verhalten», sagt Zarro.

Das Tessin ist bei Schwarzarbeitern besonders beliebt. Tenero.
Das Tessin ist bei Schwarzarbeitern besonders beliebt. Tenero.Bild: Keystone

410'000 Franken Bussgeld

In der Tat ist das wuchtige Ja des Kantons Tessin zur Masseneinwanderungs-Initiative – er hielt mit 68,2 Prozent den Schweizer Spitzenwert – in erster Linie als Unmutsbekundung der Bevölkerung gegenüber der grossen Anzahl von Grenzgängern zu verstehen. Formell werden die selbst- und unselbstständigen Dienstleister, die Zarros Team zu kontrollieren hat, nicht zu den «frontalieri» gezählt. Faktisch sind aber gerade diese aufgrund der häufigen Übertretungen und der übermässig starken Zunahme in Verruf geraten. Die in gewissen Fällen berechtigte Furcht der einheimischen Bevölkerung, durch deren Dumpinglöhne aus dem Arbeitsmarkt gedrängt zu werden, hat in den letzten Jahren wie kein zweites Thema die politische Debatte geprägt.

Kurzarbeiter: Die Zahlen explodieren
Angehörige von EU- oder Efta-Staaten und Arbeitnehmer von Firmen aus diesen Ländern benötigen in der Schweiz für einen Arbeitsaufenthalt von jährlich höchstens 90 Tagen, der in der Regel «zerstückelt» wird, keine Bewilligung. Es reicht eine Online-Anmeldung, die spätestens acht Tage vor Beginn der Tätigkeit beim entsprechenden Kanton eintreffen muss. Diese Praxis ist im Tessin aber heftig umstritten, parlamentarische Initiativen wollen sie wieder durch die persönliche Meldung auf der Amtsstelle ersetzen. Grenzgänger, die das ganze Jahr über in der Schweiz arbeiten, brauchen in jedem Fall eine Bewilligung. Bei der Anmeldung der Kurzaufenthalter wird zwischen «selbstständigen Dienstleistungserbringern» und «entsandten Arbeitnehmern» unterschieden, wobei Letztere im Baugewerbe einem Gesamtarbeitsvertrag mit festgelegtem Mindestlohn unterstellt sind. Manche Auftraggeber missbrauchen diesen Umstand: Sie stellen Selbstständige, die es in Tat und Wahrheit gar nicht sind (sogenannte «Scheinselbstständige») an und drücken auf Lohn und Arbeitszeit. Es ist unter anderem die Aufgabe der Arbeitsmarktinspektoren von der AIC (siehe Haupttext), solche Fälle aufzudecken und zu ahnden. Im Tessin ist die Anzahl der Meldungen für einen Aufenthalt von maximal 90 Tagen in den letzten Jahren geradezu explodiert. Lag sie 2011 noch bei gut 15'000, waren es 2012 bereits über 23'000. Im Jahr 2013 gingen beim Kanton schliesslich 37'618 Meldungen ein. (FUM)

Bruno Zarro und seine Leute haben entsprechend alle Hände voll zu tun. Erst im November wurde sein Team auf mittlerweile fünf Leute erweitert, über alle Branchen und Anmeldekategorien verteilt sind im Tessin gar 23 Kontrolleure im Einsatz. Stossen diese auf Verstösse, melden sie es dem Kanton, der Bussen verteilt und in krassen Fällen Arbeitsverbote ausspricht. Alleine für den Bau- und Handwerksektor büssten die Behörden im letzten Jahr im Umfang von 410'000 Franken.

Die Dunkelziffer bleibt aber hoch. «Wir bräuchten doppelt so viel Personal, um konsequent alle Kurzaufenthalter kontrollieren zu können», sagt Zarro. Wunschdenken. Also versuchen die Inspektoren, ihre Spürnasen so effizient wie möglich einzusetzen. So zum Beispiel auf dem Weg zum nächsten Einsatz in Breganzona. Zarros Mitarbeiter Mattia, der mit seinem Kleinwagen vorausfährt, fällt ein Lieferwagen mit italienischem Nummernschild und grossflächiger Heckwerbung auf. Er ruft seinen Chef an, die beiden entscheiden sich für eine spontane Kontrolle.

Über eine Mauer geflüchtet

«Buongiorno, ispettorato del lavoro», sagt Zarro beim Eintreten in die Karosseriewerkstatt. Die beiden Männer, die über eine offene Kühlerhaube gebeugt sind, erschrecken sichtlich. Und sie entspannen sich auch nicht, als ihnen der Inspektor erklärt, warum er hier sei. Es sind Vater und Sohn, die im italienischen Grenzgebiet eine Firma für Autoersatzteile führen. Einen Meldeschein haben sie nicht – brauchen sie aber auch nicht, denn sie machen den Kontrolleuren glaubhaft, dass sie nur verzollte Bestandteile verkaufen, selber aber keinerlei handwerkliche Arbeiten ausführen. Das ist gesetzeskonform. Ihre propere Kleidung lässt in der Tat eher auf Verkäufer denn auf Monteure schliessen. Der Anfangsverdacht erhärtet sich nicht. Zarro und sein Mitarbeiter ziehen von dannen – und die italienischen Händler wünschen sie wohl zum Teufel, sobald sie hinter dem Garagentor verschwunden sind.

Weiter zum nächsten Einsatz. Gemäss Meldeschein arbeiten zwei Gärtner aus Varese in einem Privathaus im Luganeser Villenviertel. Der Weg ist steil, Zarros Skoda keucht die engen Kurven hinauf. Doch abgesehen von der atemberaubenden Aussicht auf den Luganersee hat sich die Fahrt nicht gelohnt – Gärtner sind unter der angegebenen Adresse keine zu finden. Der Grund dürfte simpel sein: Am nächsten Tag ist starker Regen angesagt, keine idealen Voraussetzungen für mehrtägige Gartenarbeiten. Also sind die Gärtner wohl schlicht zu Hause geblieben. Denn die Online-Anmeldung muss spätestens acht Tage vor Arbeitseinsatz beim Kanton eintreffen – dann, wenn es noch keine Wetterprognose gibt.

Auch Kontrollen schrecken die Schwarzarbeiter nicht ab.
Auch Kontrollen schrecken die Schwarzarbeiter nicht ab.Bild: Keystone

Der Leerlauf gehört zum Alltag der Arbeitsinspektoren. Die spektakulären Fälle sind die Ausnahme. Doch es gibt sie: Ein paar Mal jährlich flüchten Bauleute, sobald sie die Inspektoren erblicken. Einmal sprang einer gar über eine mehrere Meter hohe Mauer in die «Freiheit» und kam wie durch ein Wunder mit leichten Verletzungen davon. Je grösser eine Baustelle, desto höher die Gefahr, dass ein Arbeiter durch die Maschen schlüpft. Bei einer Grosskontrolle flankiert deshalb die Polizei den Einsatz.

Zarro und sein Team rufen aber auch sonst regelmässig die Polizei zur Hilfe – immer dann, wenn sie einen Arbeiter entdecken, der sich illegal in der Schweiz aufhält (wer nur gegen die Meldepflicht verstösst, wird gebüsst und muss die Arbeit beenden). Heute ist das nicht nötig, auch beim letzten Einsatz auf einer Baustelle in Torricella sind alle Papiere der Arbeiter in Ordnung. Doch Zarro weiss: Schon morgen wird das wieder anders sein. Dafür spricht die Statistik – und «il buon naso». 

* Von der Redaktion verändert.

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