Herr Bode, die Befürworter der TTIP sprechen von einer Vereinheitlichung der Normen zum Wohl von allen. Warum sollen Autoblinker und Kabelanschlüsse nicht standardisiert werden?
Thilo Bode: Das sollen sie ruhig! Es gibt nicht nur technische Normen, sondern auch gesellschaftliche Standards. Die Länge einer Schraube ist sicher technisch bedingt, Sicherheitsaspekte hingegen auch gesellschaftspolitisch. In der TTIP werden technische und gesellschaftspolitische Interessen vermengt. Diese Mischung verschleiert die wahren Absichten und macht das Abkommen so gefährlich.
Sie sprechen von einer «Freihandelslüge». Ist die TTIP eine Verschwörung der internationalen Konzerne gegen Konsumenten und Steuerzahler?
Verschwörung scheint mir übertrieben, aber der Einfluss der wirtschaftlichen Interessen der Konzerne auf die Regulierung droht durch die TTIP übermässig gross zu werden. Im Vertrag erhält dieser Einfluss zudem einen rechtlichen Charakter. Das halte ich für gefährlich. So hat mir ein Vertreter der deutschen Autoindustrie offen erklärt: Für uns sind nicht die technischen Details wichtig. Entscheidend ist, dass wir in Zukunft den Daumen auf der Regulierung haben, dass der Staat nicht alles mit uns machen kann.
Wo lauern die Gefahren konkret?
Zum einen darin, dass sich die Regulierungsbehörde über die Köpfe der gewählten Regierungen zusammensetzt und unter Einfluss wirtschaftlicher Interessen Dinge beschliesset, die uns alle betreffen. Gerade die Finanzkrise hat gezeigt, dass das Wirken der Regulierungsbehörde weit reichende Konsequenzen hat. Das Gleiche kann man auch in anderen Sektoren beobachten, beispielsweise im Lebensmittelrecht.
Meinen Sie damit die viel zitierten «Chlorhühnchen»?
Die «Chlorhühnchen» sind nicht das Problem. Auf beiden Seiten des Atlantiks sind die Lebensmittelstandards schlecht. Wichtig wäre es, sie zu verbessern: Eine verständliche Nährwertkennzeichnung – etwa mit der so genannten Lebensmittelampel –, Transparenz bei Agrargentechnik, eine umweltfreundlichere Landwirtschaft, bessere Tierhaltungsstandards und, und, und. Wenn die EU und die USA hier die gegenwärtigen Standards in der TTIP festschreiben, können wir sie nicht mehr einseitig ändern. Jede Verbesserung bedarf dann der Zustimmung unseres Handelspartners USA – oder es drohen Handelssanktionen und Schiedsklagen. Dagegen richtet sich unsere Kritik.
Weshalb ist das «Chlorhühnchen» nicht relevant?
Experten sehen darin kein gesundheitliches Risiko. Aber die Leute hier wollen es nicht, und daher wird es auch nicht kommen. Diese Debatte lenkt also nur vom Kern des Problems bei der TTIP ab.
Werden bestehende Bestimmungen also nicht ausser Kraft gesetzt?
Die TTIP wird nicht plötzlich gesetzliche Standards nach unten verschieben. Die Bedrohung ist, dass sich der Staat in Bezug auf Regulierungen in der Zukunft selbst beschneidet. Das eigentliche Problem liegt darin, dass bestehende Standards nicht mehr weiterentwickelt werden können.
Ist die TTIP eine neue Form von amerikanischem Imperialismus?
Nein, überhaupt nicht. Auch in den USA gibt es grossen Widerstand gegen das Abkommen. Die TTIP ist vor allem getrieben von den Interessen der internationalen Grosskonzerne. Bedient werden die Interessen von Coco Cola und Nestlé, von BMW und Ford.
Gerade diese Konzerne sind doch an der Vereinheitlichung von technischen Standards interessiert.
Dazu braucht es kein so weit in alle Lebensbereiche hineinwirkendes Freihandelsabkommen mit Schiedsgerichten und anderen Eingriffen in die Demokratie, dazu reichen auch Branchenvereinbarungen. Mit der TTIP jedoch geht es ans Eingemachte, an die Regulierungen. Eine enge Regulierungszusammenarbeit, die gesellschaftspolitische Fragen dem transatlantischen Handel unterordnet, ist aber wegen ihrer Auswirkungen auf die Demokratie problematisch. Das spüren die Leute auf beiden Seiten des Atlantiks.
Was ist so gefährlich am geplanten, privaten Schiedsgericht?
Nehmen Sie das Beispiel von Vattenfall und Hamburg. Der schwedische Energiekonzern hat sich gegen Umweltauflagen bei einem Kohlekraftwerk gewehrt – und noch bevor es zu einem Schiedsspruch kam, hatte Hamburg diese Auflagen gelockert. Es könnte auch sein, dass die deutsche Bundesregierung von einem privaten Schiedsgericht wegen des Atomausstiegs zu Schadenersatz verurteilt wird, während das Verfassungsgericht den Atomausstieg parallel für rechtens erklärt. Die Rechtsstaatlichkeit wird so durch ein privates Gericht ausgehebelt.
Die TTIP täuscht auch die Konsumenten. «Schwarzwälder Schinken» beispielsweise wird aus Schweinen gemacht, die in den USA gezüchtet wurden.
Das Fleisch dürfte ja schon heute aus den USA kommen. Die regionalen Bezeichnungen der Lebensmittel sind heute oft irreführend. Hier zeigt sich auch das Dilemma: Wenn die TTIP tatsächlich kommen sollte und Kennzeichnungsvorgaben festschreibt, dann kann die EU schlechte Standards nicht mehr einseitig verbessern.
Was heisst das konkret?
Die europäische Gentechnik-Kennzeichnung beispielsweise würde nicht abgeschafft, das kann sich keine Regierung erlauben. Aber sie könnte nicht mehr so einfach verbessert werden, wenn die TTIP die bestehende Regelung festschreibt. Obwohl eine grosse Mehrheit der Deutschen das will und die grosse Koalition sich auf dieses Ziel verständigt hat, wäre es dann nahezu unmöglich, in der EU eine Regelung einzuführen, die verlangt, dass Fleisch von mit genverändertem Futter gemästeten Tieren gekennzeichnet werden muss. Das ginge nur noch mit Zustimmung der USA. Die demokratische Handlungsfähigkeit eines Landes oder der EU wird damit untergraben. Das kann doch nicht sein.
Sind auch soziale Errungenschaften gefährdet?
Es ist durchaus vorstellbar, dass gegen Mindestlöhne geklagt wird. Auch die Gewerkschaften könnten Schwierigkeiten erhalten. Im Süden der USA beispielsweise gibt es praktisch keine Betriebsräte.
Sie betonen, dass die schlechtesten Standards sich durchsetzen würden. Wäre nicht auch das Gegenteil möglich, dass höhere Standards eingeführt werden könnten?
Es geht um die Standards der Zukunft! Das Verhandlungsmandat für die TTIP ist glasklar: Kostenersparnis durch die Beseitigung von Handelshemmnissen. Eine Verbesserung gesellschaftspolitischer Standards bringt keine Ersparnisse, sie kostet oftmals mehr – und ist daher tendenziell unerwünscht. Es ist daher kein Trost, wenn Politiker behaupten, die Standards würden nicht gesenkt. Wenn sie nicht nach oben entwickelt werden können, ist das das eigentliche Problem.
Brauchen wir überhaupt noch weitere Freihandelsabkommen?
Gegen fairen Freihandel ist nichts zu sagen. Ausser in der Landwirtschaft spielen Zölle aber kaum noch eine Rolle. Es geht bei der TTIP primär um die Regulierungen. Es geht für Konzerne darum, auf die Entwicklung der Standards in der Zukunft rechtlich abgesichert Einfluss zu nehmen.
Und was ist mit den Wohlstandsgewinnen, die ein Abkommen wie die TTIP angeblich bringen würde?
Das sind aufgeblasene Versprechen. Die optimistischsten Studien beruhen auf völlig unrealistischen Annahmen – und sagen selbst dann nur sehr überschaubare Effekte und gewiss kein Jobwunder voraus. Europa kann es locker verkraften, auf die TTIP zu verzichten.
Hat das Abkommen politisch eine Chance?
In Deutschland würde das Abkommen bei der Bevölkerung nicht durchgehen, in Österreich auch nicht. Frankreich wird in dieser Frage eine ganz entscheidende Rolle spielen. Dort hat die öffentliche Diskussion noch nicht begonnen. Aber die Erfahrung aus den Lesungen meines Buches macht mich optimistisch: Je mehr die Menschen über die TTIP erfahren, desto heftiger lehnen sie diesen Vertrag ab.