Der Kapitalismus hat vor 25 Jahren über den Sozialismus triumphiert, und nun soll er in seiner bisher tiefsten Krise stecken – ja, eigentlich kurz vor seiner Abdankung sein? Und das vor unser aller Augen.
Endlich, ächzen seine zahlreichen Kritiker. Und schildern ihn sogar auf dem vermeintlichen Sterbebett noch als hydraähnliches Ungeheuer, dem stets neue, andere Köpfe nachwachsen.
Nun, so die Pointe der modischen Lesart, frisst das Ungeheuer nebst seinen «Kindern», den Grossbanken und Globalen Playern quasi auch sich selbst auf.
Der Tod des Kapitalismus ist das populäre Wirtschaftsmärchen, das uns die Medien fast täglich auftischen, und zwar nicht erst seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008.
Die Mär hat zweifellos ihren Reiz. Mit der Realität hat sie aber nichts zu tun. Denn wir leben in Europa längst nicht mehr in einer kapitalistischen Gesellschaft. Auch nicht in einer halbwegs freien Marktwirtschaft. Der Fall der Berliner Mauer war deshalb auch nie der Triumph der freien Marktwirtschaft über die sozialistische Zentral- und Planwirtschaft.
Was dann?
In den Zeiten des kalten Krieges – mit der Gefahr des real existierenden Sozialismus bzw. Kommunismus vor Augen – haben sich westliche Wohlfahrtsstaaten eine richtig schöne Sozialdemokratisierung verpasst. Deren Propagandisten links wie rechts verhielten sich aufgrund der Systemkonkurrenz politisch korrekt (aber sachlich falsch), wenn sie die eigene Gesellschaft als «kapitalistisch» beschrieben.
Stattdessen ist der schuldenfinanzierte, sozialstaatliche Neoetatismus – oder einfacher: der starke, krass umverteilende Fürsorgestaat – seit Jahrzehnten politischer Mainstream über alle Parteigrenzen hinweg.
Der Fall der Mauer ist, wenn schon, der Sieg des sozialstaatlichen Softsozialismus im Westen über den sozialistischen Autoritarismus im Osten. Denn wie auch immer man Marktwirtschaft im Detail definiert, klar ist: Nur wo der Einzelne frei entscheiden kann, was er mit seiner Kaufkraft anstellt, kann sinnvollerweise davon die Rede sein.
Der Markt ist ein Ort des freiwilligen Tauschs mit der freien Preisbildung, das sagt jedes Schulbuch. Was es nicht sagt: dass sich in den europäischen Wohlfahrtsgesellschaften Staats- und Abgabequoten von 50 Prozent und mehr etabliert haben, was umgekehrt bedeutet, dass ein jeder von uns im Schnitt maximal über die Hälfte seines Einkommens frei verfügen kann.
Die Schweiz ist mit einer durchschnittlichen Steuerquote von rund 45 Prozent (inklusive der aus Zwangsabgaben finanzierten Ausgaben für Krankenversicherung, Unfallversicherung und berufliche Vorsorge) kein Sonderfall, sondern ist im besten Falle gehobener europäischer Durchschnitt.
Zahlen lügen nicht. Während Vertreter der Linken über den Befund vornehm schweigen, weil sie die Sozialisierung des Volkseinkommens weiter vorantreiben möchten, erschöpfen sich die Exponenten bürgerlicher Politik in einer schrillen Verteidigung des Status quo. Doch sie kaschieren damit nur den Umstand, dass auch sie im Denken längst zu Sozialdemokraten geworden sind.
Dieses staats- und finanzpolitische System, das der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke vor 50 Jahren als «Fiskalsozialismus» beschrieb, funktioniert nicht nach dem marxistischen Prinzip der gewaltsamen «Expropriation der Expropriateure». Das ist auch nicht mehr nötig, wenn die Hälfte des erwirtschafteten Bruttoinlandprodukts durch staatliche Hände fliesst.
Anonyme Dritte entscheiden durch staatlich gelenkte Konsum- und Investitionstätigkeit, was produziert wird. Die Privatwirtschaft verwandelt sich so ganz automatisch in eine Staatswirtschaft – unter tatkräftiger Hilfe mancher anonymer Grossunternehmen (AG = société anonyme), die das Spiel nur zu gern mitspielen.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass Politiker, Lobbyisten, Bürokraten, Beamte, Berater und – in einer direkten Demokratie auch andere Bürger – über die Hälfte des Geldes jener bestimmen, die es doch eigentlich selbst verdient haben. Oder noch klarer: Unbefugte entscheiden, ob und wofür es gespart, investiert, konsumiert oder verpulvert wird – und damit auch, was als gutes Leben gilt.
Dem Einzelnen bleibt nur die Hoffnung, dass ihm ein Teil seiner Kaufkraft auf verschlungenen staatlichen Wegen irgendwann wieder wie von Wunderhand in die eigene Tasche zurückfliesst.
Einige besonders wache Bewohner der westlichen Komfortzone haben darum begonnen, ein neues, realitätsnäheres Narrativ zu entwickeln. Von Marktwirtschaft ist dabei nicht mehr die Rede, dafür in Europa von «Semisozialismus» (Peter Sloterdijk) oder «Neokollektivismus» (Wolf Lotter), in den USA zumeist von «crony capitalism» (Luigi Zingales und David A. Stockman).
Dahinter steckt aber im Kern immer dasselbe: Big Business und Big Government arbeiten Hand in Hand, sogenannte private-public partnerships, die Zusammenarbeit zwischen der öffentlichen Hand und privaten Unternehmen, sind das Geschäftsmodell der Stunde.
Egal, ob Finanzindustrie, Soziales, Gesundheit, Energie, Vorsorge, öffentlicher Verkehr, Bau, Landwirtschaft, es ist der Staat, der hier die Preise setzt, über billiges Geld, Subventionen, Regulierungen, gesetzliche Privilegierungen und Schutzzölle.
In einem solchen System zählt nicht mehr der Dienst am Kunden, sondern die Beziehung zum Gesetzgeber; nicht die Leistung, sondern das Lobbying; nicht der Wettbewerb, sondern das Einvernehmen.
Beamte oder leitende Angestellte staatsnaher Betriebe mit viel Lohnpotenzial gegen oben, aber null Risiko gegen unten – wo ist da mittlerweile der Unterschied? In einem solchen Klüngelsystem geht es nicht mehr um «profit seeking», sondern um «rent seeking», um eine politische Rente also: um das grundlose Einkommen, die guten alten Pfründe, das Leben auf Kosten anderer.
Nicht der Kapitalismus, nein, die Kollektivierung, also die Sozialisierung der Wirtschaft, stösst 25 Jahre nach dem Mauerfall an ihre real-ökonomische Grenze. Die Schuldenwirtschaft hat begonnen, die Vermögen und (Zwangs-)Ersparnisse der Bürger zu vernichten – die sozialstaatlichen Versprechen erweisen sich als gut gemeint, aber schlecht fundiert.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus hat also auch der Sozialdemokratismus abgewirtschaftet. Dies wird auch die westlichen Demokratien nachhaltig erschüttern.
Die kollektiv ausgefochtenen Verteilungskämpfe zwischen Leistenden und Empfangenden, zwischen Jung und Alt, zwischen Habenden und Nichthabenden haben gerade angefangen; die Politik der Bewirtschaftung bestehender Privilegien dürfte sich erst zuspitzen, später an den eigenen – unhaltbaren – Versprechen zerbrechen, mit unklaren Folgen.
Gegen die Verteidigung des softsozialistischen Status quo hilft nur eins: mehr Markt, oder anders: eine radikale Entflechtung von Wirtschaft und Staat, eine Besinnung auf Eigenverantwortung, Eigenvorsorge und echte, das heisst freie Marktwirtschaft.
Was wir brauchen, sind keine neuen Träumereien einer Solidarwirtschaft. Was wir brauchen, ist ein echter «Capitalism for the People» (Luigi Zingales), in dem jeder Einzelne die Früchte seiner Arbeit behalten kann und selbst entscheidet, was er mit seiner Kaufkraft anstellt.
Die Sozialhilfequote hierzulande liegt bei 6 %, die Bezüger von Arbeitslosengeld machen etwa 3 % aus - wer da über "Fürsorgestaat" und "Sozialdemokratismus" jammert, zeigt sich als Ideologe.
Gewiss: via Schulden sollte die "Soziale Marktwirtschaft" nicht finanziert werden. Unabhängig davon: sie ist ein historisches Erfolgsmodell.