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Warum Freaks, Wissenschaftler und das Militär mit Cyborg-Insekten experimentieren

Eine mit Mikrochip ausgerüstete Kakerlake wird per Fingerwisch auf dem Smartphone gesteuert. 
Eine mit Mikrochip ausgerüstete Kakerlake wird per Fingerwisch auf dem Smartphone gesteuert. Bild: ho
Die neuen Drohnen krabbeln

Warum Freaks, Wissenschaftler und das Militär mit Cyborg-Insekten experimentieren

Ferngesteuerte Kakerlaken gibt's als «Spielzeug» im Internet zu kaufen. Das US-Militär will sie nun als steuerbare Mini-Spione nutzen. Mit einer Kamera oder einem Mikrofon ausgerüstete Roboterinsekten wären die perfekten Wanzen.
23.03.2014, 11:3023.03.2014, 12:27
Raffael Schuppisser, schweiz am sonntag
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Die Kakerlake trägt einen Rucksack. Auf ihren Panzer ist ein roter Mikrochip geschnallt. Er ist mit ihren Fühlern verdrahtet und kann Signale eines Smartphones empfangen. Per App lässt sich das drei Zentimeter lange Tierchen wie ein ferngesteuertes Auto kontrollieren.  

Mit etwas Geschick kann sich jeder eine solche Roboter-Kakerlake basteln. Der Bausatz «RoboRoach» mit der dazu nötigen Elektronik lässt sich über das Internet für 99 Dollar kaufen. Die Kakerlake selber findet man entweder in der Natur oder bestellt sie gleich mit. Für 24 Dollar gibt es ein Zwölferpack. Das alles bietet die amerikanische Firma Backyard Brains an, die sich rühmt, den ersten kommerziell erhältlichen Cyborg zu vertreiben.  

Cyborgs sind Mischwesen. Halb biologischer Organismus, halb Maschine. Die kybernetische Technologie verschmilzt mit dem Nervensystem der Kakerlake. Wie das geht, zeigt ein Anleitungsvideo im Internet: Zuerst legt man die Kakerlake für fünf Minuten in Eiswasser, um sie zu betäuben. Danach reibt man mit einem Schleifpapier den Panzer am Kopf auf, um dort ein elektronisches Bauteil mit Kleber zu befestigen. Sodann bohrt man ein Loch mit einer Nadel in den Thorax, um einen Draht zur Erdung in den Körper zu ziehen. Danach kommt der wichtigste Teil der Operation: Man hackt sich ins Nervensystem des Insekts. Dafür werden die Fühler mit einer Schere gekürzt und mit den Drähten des Elektronikbauteils verbunden.  

Nichts für Tierfreunde: So bastelt man eine Roboter-Kakerlake 

Hat das Insekt diese Tortur überlebt, geht es am nächsten Tag weiter. Man schnallt ihm ein zweites Elektronikbauteil auf den Rücken, das unter anderem eine Minibatterie beherbergt, und das Cyborg-Insekt sollte einsatzfähig sein. Per Smartphone-App lässt sich die Kakerlake nun fernsteuern. Versetzt man der Schabe einen Stromimpuls in den linken Fühler, so «glaubt» sie, dass sich dort ein Hindernis befindet, und sie dreht nach rechts. Ein Stromstoss in den rechten Fühler lässt die Kakerlake nach links drehen. Mehr lässt sich damit nicht machen.  

Tierschützer sind entsetzt

«Schaben so zu manipulieren, ist ganz klar eine Tierquälerei», sagt die Zoologin Sara Wehrli vom Schweizer Tierschutz (STS). Schmerzrezeptoren, wie sie Wirbeltiere haben, besitzen Schaben zwar keine. Doch Wehrli weist auf Forschungsarbeiten hin, die ergeben haben, dass Kakerlaken durchaus Stressreaktionen zeigen. Inwiefern die Tiere also nicht doch Schmerzen wahrnehmen können, sei nicht abschliessend geklärt. Es gehe hier ganz klar um eine, durch kein höheres Interesse begründete Instrumentalisierung des Tieres, wie sie gemäss Tierschutzgesetz hierzulande verboten sei.  

Die internationale Tierschutz-Organisation Peta ging bereits gerichtlich gegen die Firma Backyard Brains vor. Ein Entscheid der zuständigen Behörde aus Michigan steht noch aus. Die Macher der Roboter-Kakerlake betonen ihrerseits den pädagogischen Wert ihres Cyborg-Werkkastens. Man lerne die Anatomie und das Nervensystem der Kakerlake kennen.  

Die Tierethikerin Arianna Ferrari hält dagegen. «Pädagogisch wertvoll sind diese Experimente sicherlich nicht», meint die Philosophin, die am Karlsruher Institut für Technologie forscht und das Buch «Animal Enhancement» verfasst hat. Vielmehr werde durch das Experiment eine respektlose Einstellung gegenüber Lebewesen suggeriert. «Die Schabe wird zum Spielzeug und zur Ware degradiert», meint die Philosophin.  

Militär will Insekten zu Spionage-Drohnen modifizieren

Für das Militär jedoch sind Cyborg-Insekten mehr als bloss Spielzeug. Die US-Armee will die Fortschritte der Neurowissenschaft für ihre Zwecke nutzen und treibt die Verschmelzung von Tier und Maschine voran.

2006 begann die Forschungsagentur des Verteidigungsministeriums, die Defense Advanced Research Agency (Darpa), Projekte zu Cyborginsekten zu fördern. Die kleinen Tierchen sollen zu steuerbaren Spionagedrohnen modifiziert werden. Zwar besitzt die US-Armee auch Mini-Drohnen, doch diese sind noch immer grösser und auffälliger als richtige Insekten. Warum alles von Grund auf selber bauen, wenn man sich bei der Natur bedienen kann?  

Die erste Insekten-Drohne hob bereits 2009 ab

Und so begannen findige Forscher damit, Insekten zu Cyborgs zu modifizieren. 2009 präsentierte der Elektroingenieur Michel Maharbiz mit seinem Team der University of California den ersten fliegenden Käfer, der sich kabellos steuern liess. Das etwa fünf Zentimeter grosse Tierchen hält sich aus eigenen Kräften in der Luft; über Signale in die Flügel lenkt man es in die gewünschte Richtung. Die dafür notwendige Elektronik trägt das Insekt auf seinem Rücken – ähnlich wie die «RoboRoach».  

«Dereinst sollen die Insekten nicht mehr nur durchs Versuchslabor krabbeln, sondern in Katastrophengebieten zum Einsatz kommen.»

Ebenfalls auf Kakerlaken setzen Alper Bozkurt und sein Team von der North Carolina State University. In einem Demonstrationsvideo zeigen die Forscher, wie eine Schabe einen kurvigen Pfad entlang krabbelt – weicht sie von der Strecke ab, bringt ein kleiner Stromstoss sie wieder auf Kurs. Dereinst sollen die Insekten nicht mehr nur durchs Versuchslabor krabbeln, sondern in Katastrophengebieten zum Einsatz kommen. Ein Trupp von vernetzten Cyber-Kakerlaken könnte ein Territorium, das für Menschen unzugänglich ist, erkunden.  

Die Käfer sollen zufällig losziehen, sobald sie aber an eine Wand stossen, würden sie dieser, gesteuert über einen Sensor, automatisch folgen. Über den Abgleich von Funksignalen liesse sich ein genauer Plan des Gebiets erstellen. Mithilfe von Wärmesensoren könnte man verschüttete Menschen finden. Warum verwenden die Forscher dafür nicht Mini-Roboter? «Weil es keine Mini-Roboter gibt, die sich in solch unwegsamem Gelände bewegen können», sagt Alper Bozkurt.  

Mit einem Mikrofon ausgerüstete Cyborginsekten wären die perfekten Wanzen

Natürlich liessen sich die kleinen Cyborgs für Spionagezwecke nutzen. Von Vorteil wäre dazu eine am Käfer angebrachte Kamera. «Noch ist das nicht möglich», sagt Alper Bozkurt, «aber es steht auf unserer To-do-Liste.» Ein Problem ist das Gewicht. Weniger jenes der Kameralinse selber als vielmehr der Stromquelle. Doch das könnte bald gelöst sein. 

Jüngst haben japanische Forscher einer Kakerlake eine Bio-Brennstoffzelle auf den Rücken montiert, welche die Körperflüssigkeit des Tierchens anzapft und aus dem Zucker in der Lymphe Strom gewinnt. Noch ist die daraus resultierende Energie zwar relativ klein. Doch der Weg ist vorgezeichnet: Dereinst könnte der Bioorganismus der Cyborginsekten selber eine Kamera oder einen Sensor mit Strom versorgen. Die Natur hat der Technik eben noch immer viel voraus.  

«Anders als bei wissenschaftlicher Forschung lassen sich die Selfmade-Tierexperimente in keiner Weise kontrollieren.»

Mit einer Kamera oder einem Mikrofon ausgerüstete Cyborginsekten wären die perfekten Wanzen: winzig und bestens getarnt. Zwar ist es denkbar, dass künftig einmal winzige Drohnen gebaut werden, die es mit Insekten aufnehmen können. Doch gemäss Alper Bozkurt wird das noch lange gehen. Bis dahin dürfte das Interesse an den Cyborginsekten weiter zunehmen. Nicht zuletzt, weil das Forschungsfeld dank des «RoboRoach»-Baukastens nun auch für Do-it-yourself-Neurologen und Biohacker geöffnet ist.

Gut möglich, dass das nächste für Aufsehen und Schauder sorgende Cyborgtierchen nicht aus einem universitären Labor stammt, sondern in irgendeiner Garage oder einem Hobbykeller gebaut wird. Für Tiere könnte das viele unnötige Strapazen bedeuten. Arianna Ferrari beobachtet die Entwicklung mit grosser Sorge. «Damit wird Tür und Tor geöffnet zu einem beliebigen und respektlosen Umgang mit Tieren», meint die Ethikerin. Und sie fügt an: «Anders als bei wissenschaftlicher Forschung lassen sich die Selfmade-Tierexperimente in keiner Weise kontrollieren.»   

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Schweiz am Sonntag»

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