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«Go Set a Watchman» ist das Buch, das den grössten Rummel seit «Harry Potter» auslöst

Scout (Mary Badham), das Alter Ego der Autorin Harper Lee, im Film «To Kill a Mockingbird».
Scout (Mary Badham), das Alter Ego der Autorin Harper Lee, im Film «To Kill a Mockingbird».Bild: universal pictures

«Go Set a Watchman» ist das Buch, das den grössten Rummel seit «Harry Potter» auslöst

Am 14. Juli ist es soweit: «Go Set a Watchman», der Zweitling von Harper Lee, der eigentlich ihr Erstling ist, erscheint. Und Atticus Finch, der beste Anwalt der Welt, ist plötzlich ein anderer. Die Geschichte einer Sensation.
13.07.2015, 16:1529.12.2015, 10:12
Simone Meier
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Victoria Beckham hat ihre Tochter Harper getauft, weil «To Kill a Mockingbird» («Wer die Nachtigall stört») von Harper Lee ihr Lieblingsbuch ist. Und sorgte damit 2011 für einen neuen Verkaufsrekord. Sandra Bullock hat Harper Lee in «Infamous» (2006) gespielt. Oprah Winfrey sagt, dass «To Kill a Mockingbird» das wichtigste Buch Amerikas und damit ja wohl auch der Welt sei.

Das literarische One-Hit-Wonder also, das vor 55 Jahren erschien und sich seither über 40 Millionen Mal verkauft hat. Das Buch einer heute 89-jährigen Autorin, die blind und taub in einem Pflegeheim in Monroeville, Alabama, lebt. In jenem Ort, wo sie aufgewachsen ist. Und der in «To Kill a Mockingbird» als Maycomb – eine Art Bullerbü der Südstaaten – die Hauptrolle spielte.

Und jetzt erscheint also «Go Set a Watchman» («Gehe hin, stelle einen Wächter»), das noch vor dem «Mockingbird» verfasste Sequel. Um 0.01 Uhr am 14. Juli öffneten zahlreiche Buchhandlungen in Amerika und England für einen Mitternachtsverkauf, es gab Monsterlesungen mit Prominenten, zwei Millionen Bücher wurden ausgeliefert, am 17. Juli erscheint die deutsche Übersetzung. Nur zwei Zeitungen wagten es vorher, das weltweite Embargo für Besprechungen zu brechen, die «New York Times» und der «Guardian». Spike Lee soll «Go Set a Watchman» verfilmen wollen. Reese Witherspoon liest das erste Kapitel als Hörspiel. So eine Aufregung gab's seit «Harry Potter» nicht mehr. 

«To Kill a Mockingbird» ist ein packendes, bezauberndes, hochdramatisches Buch das aus der Sicht eines wilden Mädchens namens Scout erzählt wird, das sich in ihrer Freizeit am liebsten mit Jungs prügelt. Scouts Vater, der alleinerziehende Witwer Atticus Finch (Gregory Peck erhielt einen Oscar als Atticus), ist sowas wie der gerechteste Anwalt der Welt. Er verteidigt in einem Vergewaltigungsfall den angeblichen Täter, einen Schwarzen, und predigt seinen Kindern die Rassengleichheit. Hunderte junger Menschen wurden wegen Atticus Finch Anwälte, «Mockingbird» wurde zur Schulpflichtlektüre. Geschätzte 9000 Dollar verdient Harper Lee damit auch heute noch täglich.

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Bild: AP/Harper
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In «Go Set a Watchman» besucht Scout ihren Vater zwanzig Jahre später. Die beiden haben sich auseinandergelebt: Sie ist noch immer die Unangepasste, er ist jetzt 72 Jahre alt und altersrechts geworden und nimmt an Ku-Klux-Klan-Treffen teil. Ein Idol ist gestürzt. So jedenfalls kommt es den Lesern nun vor. Was ja aber in der Chronologie der Entstehung nicht stimmt. Zuerst war Atticus alt und rechts, dann wurde er jünger und gerecht. Zuerst war das böse Manuskript da, dann das liebe.

Jared Taylor, der Anführer des Council of Conservative Citizens, einer Gruppe weisser Nationalisten, befürchtet, dass «Go Set a Watchman» zu rassistischen Ausschreitungen wie in Charleston führen könnte. Weil frustrierte junge Weisse dadurch wieder «die Sünden der Vergangenheit unter die Nase gerieben» bekämen. Der Attentäter von Charleston war stark beeinflusst von Taylor. 

Wie es zu dieser grundsätzlichen Bereinigung von Atticus Finch kam, weiss niemand, Harper Lee kann die Fragen danach nicht beantworten. War es damals, Ende der 50er-Jahre, der gutgemeinte Rat eines liberalen Verlagshauses, das hinter dem Vater-Tochter-Konflikt von «Watchman» einen gut verkäuflichen, sympathischen Stoff witterte? Oder hat Harper Lee das «Watchman»-Manuskript, wie ihre Anwältin jetzt suggeriert, erst nach «Mockingbird» eingesandt und ist vom Verlag abgewiesen worden? Und wieso wird «Watchman», das andere Buch einer Megabestseller-Autorin, erst jetzt veröffentlicht?

Atticus Finch (Gregory Peck), der Gute.
Atticus Finch (Gregory Peck), der Gute.Bild: universal pictures

Trailer zu «To Kill a Mockingbird»

Harper Lee muss man sich wohl ähnlich wie Scout vorstellen, ein wildes, velosüchtiges Mädchen und das jüngste von vier Kindern eines Anwalts für Steuerrecht. Nur einmal versuchte sich ihr Vater auch im Strafrecht: Er verteidigte zwei des Mordes angeklagte Schwarze, sie wurden schuldig gesprochen, gehängt und skalpiert. Die Mutter litt unter schweren Depressionen. Ihr Kindheitsfreund in Monroeville war der altkluge Truman Capote – in «Mokingbird» ist er als Dill verewigt. Als die schreibbegabte Harper Lee Anfang zwanzig war, organisierte Truman Capote unter Freunden ein Crowdfunding, das ihr erlaubte, sich ein ganzes Jahr lang in New York dem Schreiben zu widmen.

Daneben half sie Capote bei den Recherchen zu «In Cold Blood», dem grausigen Tatsachenroman über die Morde an einer Familie in Kansas. Sie liebte Blut, sie liebte Verbrechen, sie hatte selbst ein paar Semester Jura studiert und als Journalistin gearbeitet und war eine exzellente Interviewerin. Der Film «Capote» von 2005 mit Catherine Keener als Harper Lee zeigt die Freundschaft und Arbeit der beiden sehr genau. Philip Seymour Hoffman gewann einen Oscar als Capote.

1960 erschien «To Kill a Mokingbird» und war sofort ein Erfolg. 1962 gewann sie den Pulitzer-Preis, und der Film kam in die Kinos. 1966 veröffentlichte Capote «In Cold Blood». Frustriert entzweiten sich die Freunde, sie, weil sie ihre Arbeit an seinem Buch zu wenig gewürdigt sah, er, weil er nicht selbst einen Pulitzer-Preis gewann.

Die Gerichtsszene aus «To Kill a Mockingbird» gehört zu den berühmtesten der amerikanischen Filmgeschichte.
Die Gerichtsszene aus «To Kill a Mockingbird» gehört zu den berühmtesten der amerikanischen Filmgeschichte.Bild: universal pictures
Catherine Keener ist Harper Lee in «Capote» (mit Philip Seymour Hoffman).
Catherine Keener ist Harper Lee in «Capote» (mit Philip Seymour Hoffman).Bild: AP, SONY PICTURES CLASSICS

Und dann zog sich Harper Lee aus der Öffentlichkeit zurück. Lebte in der Anonymität von New York, gab keine Interviews, begann ein paar Romane, gewann unendlich viele Preise und liess sich von ihrer Anwältin – ihrer älteren Schwester Alice – vertreten. 2007 erlitt sie einen Schlaganfall, wurde erst nach einem Tag in ihrer New Yorker Wohnung gefunden, seither lebt sie verbittert in Monroeville und prozessiert gegen jeden, der versucht, mit «Mockingbird»-Souvenirs ein bisschen Geld zu machen. Alice starb 2014 mit 103 Jahren. 

Mit Alices Tod brach der Damm, der Harper Lee bisher vor Zudringlichkeiten bewahrt hatte. Tonja B. Carter, bisher Harper Lees zweite Anwältin neben Alice, erinnerte sich plötzlich an ein geheimnisvolles Paket in einer alten Schachtel in einem Safe. Das Paket, das die beiden Schwestern über 50 Jahre unangetastet gelassen hatten, enthielt «Go Set a Watchman». Kann man Tonja B. Carter glauben, so geschah alles, was danach passierte mit Harper Lees Einverständnis. Jedenfalls soll die blinde, taube, geistig angeschlagene alte Dame Carters Fragen öfter mit «yes» beantwortet haben.

Sie wollte einmal «die Jane Austen von Alabama» werden. Sie wurde dann ganz einfach Harper Lee. Die zurückgezogene Frau mit dem makellosen Buch. Das jetzt sein dunkleres, komplexeres Spiegelbild erhält. Sein böses Geschwisterchen. Tausende von Englischlehrern werden in Zukunft vergleichende Lektüre betreiben können. Und der Fall der Harper Lee, die Velos, Verbrechen und die Gerechtigkeit liebte, bleibt, was er immer schon war: interessant.

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