«Fräulein Sabina Spielrein, geb. 1885 von Rostow am Don (Russland), zeigt Zeichen hochgradiger Hysterie. Sie lacht und weint abwechselnd, schreit auf [...] Eine Aufnahme in einer Irrenanstalt ist unbedingt nötig, da evt. Selbstgefährlichkeit eintreten könnte. Paranoia nicht ausgeschlossen. Jedenfalls besteht eine Psychose.»
Mit diesem ärztlichen Attest wird die 18-jährige Sabina Spielrein ins Burghölzli eingeliefert.
Der Fortschritt hat die Menschen nicht glücklicher gemacht, die kapitalistische Moderne fordert ihnen vieles ab und der unerschütterliche Glaube an die technische Beherrschung der Welt lässt sie die kühnsten Träume träumen. Die Eisenbahn, die eine noch nie da gewesene Schnelligkeit in die gebundenen, gemächlichen Leben der Leute gebracht hatte, verdrängte die Modekrankheit der vorherigen Jahrhunderte – die Melancholie. Das moderne, empfindsame Zeitalter hat die Hysterie geboren, eine Welt voller nervöser Seelen und nervenschwacher Frauen.
Die Hysterie galt von Anfang an als weibliche Erkrankung. Sie entstieg den unergründlichen Tiefen der Frau und sie wurde eng mit Wahnsinn verknüpft. Das ging sogar so weit, dass manche Ärzte die Straffreiheit für während der Menstruation begangene Verbrechen verlangten.
Die Ärzte verfielen in einen regelrechten Sammeleifer, alle möglichen Symptome trugen sie zusammen, von plötzlichen Lähmungserscheinungen des Arms, über Kopfschmerzen, Sehstörungen bis hin zu Überempfindlichkeit der Fusssohlen. Was war echt, was war Simulation, um sich vor den Strapazen des Lebens zu drücken? Und was konnte man als heimtückische, geltungssüchtige Schauspielerei abtun? Der Tenor der forschenden Männer lautete:
Doch die Krankheit warf noch eine ganz andere Frage auf: Ist es möglich, dass seelische Faktoren auf den Körper wirken? Dass nicht alle Leiden physischen Ursprungs sind?
Als Sabina ins Bürghölzli eingeliefert wird, ist Professor Eugen Bleuler der Direktor der Irrenanstalt. Die Schizophrenie seiner Schwester brachte ihn dazu, Arzt und Psychiater zu werden. Er studierte bei dem französischen Neurologen Charcot, der mittels Hypnose die hysterischen Symptome seiner Patientinnen zum Verschwinden bringen konnte. In Bleuler lebt der aufklärerische Geist weiter, aus dem das Burghölzli 1870 entstanden ist: Er will Licht in die verdrehten Köpfe psychisch kranker Menschen bringen.
Er hört ihnen zu – und findet so heraus, dass viele der Wahnideen seiner Patienten verhüllte Wunschträume sind. Bleuler ist der erste Hochschulprofessor, der sich auf Sigmund Freuds psychoanalytische Betrachtungsweise einlässt. Er experimentiert mit der Traumanlayse des «Wiener Deppendoktors», ermutigt seine Studenten dazu, Freuds Schriften zu lesen. Die von so vielen leidenschaftlich angefeindete Wiener Psychoanalyse wird erstmals klinik- und wissenschaftsfähig – in Zürich.
Sabina Spielrein hat das Gymnasium in ihrer Heimatstadt Rostov mit der höchsten Auszeichnung abgeschlossen. Sie ist ein gebildetes Mädchen, aber es geht ihr nicht gut. Sie träumt davon, vor einer grossen Menschenmenge ausgepeitscht zu werden. Sie leidet unter Zwangsvorstellungen und droht mit Selbstmord. Ihre Mutter Eva hoffte, das Mädchen würde sich im Land der guten Luft erholen. Die Seen, Wälder und Gletscher würden belebend und kräftigend wirken, ein Aufenthalt im Kurort Interlaken brächte die schönsten Heilerfolge für kranke Nervensysteme – verspricht die Broschüre.
Doch die Therapie hilft Sabina nicht. Ihr Tagebuch schweigt über ihre Anwesenheit im Sanatorium des Berner Arztes Moritz Heller, dafür spricht die Quittung ihres Aufenthaltes, die sie mit düsteren Zeichnungen vollgekritzelt hat:
Für neuneinhalb Monate wird Sabina im Burghölzli bleiben. Und sie wird sich als Glücksfall für einen Mann erweisen, der die freudianische Methode an ihr ausprobieren will: Carl Gustav Jung. Stark ist er und gross, der gebürtige Thurgauer und Sohn eines armen evangelischen Pfarrers, der vierjährig mit seinen Eltern nach Basel kam. Nach seinem Medizinstudium verschrieb er sich der Psychiatrie, zum Erstaunen seines Umfelds, denn Jung war ehrgeizig und wechselte plötzlich auf diesen so glanzlosen, von vielen belächelten Zweig. Er arbeitet als Bleulers Assistent im Burghölzli und will sich nun um die hysterische Russin kümmern.
Strenge Bettruhe wird der Patientin verordnet, niemand darf sie besuchen und alle fünf Minuten kommt eine Pflegerin, um nach Sabina zu schauen. Die junge Frau trotzt und droht, versteckt sich, spielt dem Pflegepersonal Streiche, sie rennt durch die Gänge, und fällt dann wieder in hysterische Dämmerzustände.
Jung fragt nach ihrem Vater, Sabina schweigt. Sie schneidet nur Grimassen, wehrt mit den Händen ab, ihre Beine fangen an zu zucken – oder sie streckt ihm die Zunge raus. Sie will überhaupt nicht geheilt werden.
Sabina wächst mit ihren Geschwistern in Rostow auf. Die Spielreins gehören zu den wenigen der rund fünf Millionen Juden, die im russischen Zarenreich nicht innerhalb des Ansiedlungsrayons leben. Die meisten in diesem Gebiet wohnen eingezwängt in Judenvierteln oder den Judengassen der Städte, viele sind bettelarm, man nennt sie «Luftmenschen».
In Rostow sind die Verhältnisse etwas günstiger. Die Juden leben verstreut in der ganzen Stadt, Sabinas Vater Nikolai Spielrein ist ein reicher Kaufmann, er verdient sein Geld mit dem Handel von Getreide, Futter- und Düngermittel.
Sabinas Mutter Eva ist die Tochter eines chassidischen Rabbis. Als eine der ersten Frauen im Russischen Zarenreich besucht sie während der kurzen liberalen Periode die Universität und studiert Zahnmedizin. Die Spielreins gehören zu den gebildetsten Familien der Stadt.
Sabinas kindlicher Geist ist überreich an Fantasie und wissenschaftlicher Neugier. In ihrem Tagebuch erinnert sie sich an die Dinge, die ihr vier Jahre altes Ich beschäftigten:
Die Kleine gräbt immer wieder Löcher in die Erde und fragt die Mutter, wie lange es denn noch dauere, bis sie einen Amerikaner an den Beinen herausziehen könne. Sie weiss, dass Kinder aus dem Bauch ihrer Mutter kommen und will wissen, ob sie auch eins bekommen kann. Eva Spielrein erklärt ihrer Tochter, dass sie dafür noch zu jung sei. Aber ein Kätzchen könnte sie vielleicht haben. Und während Sabina das Tierchen freudig erwartet, fragt sie sich, ob es sich mit guter Erziehung zu einem ebenso intelligenten Wesen entwickeln vermöge, wie es der Mensch sei.
Das sanfte Mädchen ist zerbrechlich und kränkelt oft. Sie fühlt sich einsam und erschafft sich einen beschützenden Geist, mit dem sie Deutsch spricht. Sabina streitet viel mit ihren Brüdern, sie spielt den Jungen Streiche – und wird dafür vom Vater bestraft. Bis sie elf Jahre alt ist, schlägt er sie mit der Hand auf den nackten Hintern, auch in Gegenwart der Brüder.
Sie liebe ihren Vater unter Schmerzen, verrät sie Jung endlich, der sich immer tiefer in ihre verletzte Seele hineinbohrt. Er solle sie nicht zwingen, bittet sie ihren Arzt. Doch er hört nicht hin.
Unbeirrt stochert er weiter, gräbt die verdrängten Erinnerungen der jungen Russin aus, die sie nun noch einmal erleben muss.
Am Ende gibt sie ihren Widerstand auf und erzählt dem Arzt, dass sie seit dem vierten Lebensjahr nach den väterlichen Schlägen sexuell erregt sei. Sie masturbierte, wenn sie mitbekommen habe, dass einer ihrer Brüder geschlagen wurde. Und auch wenn eine Patientin mit Gewalt ins Zimmer zurückgebracht werde, verspüre sie Lust, sich zu berühren. Sabina fühlt sich schuldig. Sie sei ein schlechter Mensch.
Auch von Jung verlangt sie immer wieder, er solle sie schlecht behandeln, sie nichts fragen, ihr nur Befehle erteilen. Sie will von ihm gedemütigt werden.
Jung erfüllt ihr den Wunsch nicht und so wandert der Schmerz in Sabinas Fusssohlen, die er nun zu untersuchen gezwungen ist. Die Beziehung zwischen Arzt und Patientin ist sadomasochistisch, was soll sich aus Jungs Behandlungsmethode auch anderes ergeben. Sabina beginnt sich in ihren Arzt zu verlieben, in den besseren Vater, der sich um sie kümmert. Auch Jung fühlt sich von der jungen Russin angezogen, die so ganz anders ist als seine Ehefrau Emma; gefährlicher, reizender, gebildeter und exotischer.
Viel später wird er ihr schreiben, dass er ihren «grossartigen, stolzen Charakter» liebe, sie aber niemals heiraten könne, weil er ein «grosser Philister» sei, der «das enge, spezifisch Schweizerische» brauche.
Jungs Gattin entgeht das Interesse ihres Mannes an seiner Patientin nicht. Und als sie das erste Kind zur Welt bringt, verfällt Sabina wieder in die alte Raserei. Sie versteckt sich, droht mit Selbstmord, zerkratzt den Boden und glaubt, eine schwarze Katze hocke in ihrem Zimmer, vielleicht das Tier aus ihrer Kindheit, das sie gebären wollte.
Direktor Bleuler lenkt die Patientin ab, bekräftigt sie in ihrem wissenschaftlichen Interesse und lässt sie an seinen Fallvorstellungen teilnehmen. Sabina hat bald genug Selbstvertrauen, an ihren alten Wunsch zu glauben und schreibt sich an der Universität Zürich ein. Sie will Ärztin werden.
In ihrem Heimatland marschieren am 22. Januar 1905 Zehntausende von Arbeitern zum Winterpalast, der Residenz des Zaren. Friedlich demonstrieren sie für menschenwürdige Bedingungen in den Betrieben, für Agrarreformen und die Schaffung einer Volksvertretung. Doch bis zu Nikolaus II. dringen sie nicht vor. Die Soldaten schiessen vorher in die Menschenmenge. Der Auftakt zur Revolution, die bald das ganze Land überrollen wird.
Fünf Monate später wird Sabina aus dem Burghölzli entlassen.
Jung hält die Sozialisten für nichts weiter als Diebe, in einem Brief wirft Sabina ihm Behaglichkeitssucht vor, diese würde ihn zu solch einer beschränkten Sichtweise führen:
«Der Sozialismus in der Form, dass alle Leute gleich sind [...], wäre natürlich eine Utopie. Der Sozialismus hat aber einen hohen Wert als eine antikapitalistische Bewegung. Sie sagen, zum Erwerb des Vermögens sei eine gewisse Intelligenz und Energie erforderlich, somit sind auch die Reichen die Tüchtigsten. Das könnte aber nur in Ausnahmefällen zutreffen. Mir kommt es so komisch vor, dass ich Ihnen zeigen muss, wie ungerecht die Güter verteilt sind, als ob Sie es nicht viel besser als ich wüssten.»
Sabina Spielrein in einem Brief an Jung
Jung trifft 1907 in Wien das erste Mal den Grossmeister der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Die beiden Männer sitzen 13 Stunden lang in Freuds Büro an der Berggasse 19, sie sprechen über Sabina, über die Zukunft der Psychoanalyse, während sich der Raum allmählich mit dem Rauch von Freuds Zigarre füllt: «Ich kann mir keinen besseren Fortsetzer und Vollender meiner Arbeit wünschen als Sie», meint er schliesslich.
Doch die beiden haben verschiedene Ansichten, Freuds einseitiges Beschränken auf den Sexualtrieb als Ursache jeder Neurose will Jung nicht teilen, Freud seinerseits hält Jungs parapsychologische Interessen für Humbug und fürchtet den wissenschaftlichen Tod seines jungen Fachs, vermische man es noch mit Elementen des Aberglaubens.
Eine ganze Weile verteidigt Freud Jung vor seinen Wiener Kollegen als den Kronprinzen und Erben seines Vermächtnisses, denn da wollen allesamt den Schweizer nicht als Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Er sei alt, beschwichtigt Freud die Herren, er wolle nicht länger angefeindet werden. «Die Schweizer werden uns retten. Mich und Sie alle.»
Freud sollte sich täuschen. Jung gefährdete den Ruf der Psychoanalyse. Der illegitime Sexualwunsch, den er in einem seiner Träume zu erkennen glaubte, hat sich erfüllt. Sabina ist nicht mehr nur seine Patientin.
In Wien beginnen die Leute zu reden. Sie erzählen sich, Jung wolle seine Frau verlassen, um seine Patientin zu heiraten. «Sabina hat mich verraten!», denkt der aufstrebende Arzt, der nun um sein Ansehen, seine gesellschaftliche Stellung bangt. Er schreibt Freud. Er pathologisiert Sabina, opfert sie, die angehende Medizinerin. Immer sei er «in den Grenzen eines Gentleman geblieben» steht im Brief an seinen geistigen Vater:
Er zieht mit seiner Familie nach Küsnacht und eröffnet dort eine Privatpraxis. Sabina ist verletzt, doch hofft sie noch immer auf einen liebenden Abschied von dem Menschen, den sie so sicher lieben musste wie er sie. Denn – wie Jung in seiner Schrift «Über die Rolle des Vaters im Schicksale des Einzelnen» schreibt – hänge die Wahl des künftigen Lebenspartners eines Menschen stets von seinen ersten kindlichen Beziehungen ab. Von denen zu den Eltern.
Jung habe seine nervenschwache Mutter geliebt, Sabina ihren Vater, den sie nie für normal angesehen habe: «Nun hat er sich in mich, eine Hysterikerin verliebt, und ich habe mich in einen Psychopathen verliebt.»
Als sich die beiden endlich aussprechen, entschuldigt sich Jung für die falschen Verdächtigungen. Sie bringt ihn dazu, auch Freud gegenüber die Wahrheit zu sagen.
1911 promoviert Sabina. «Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie» lautet der Titel ihrer Dissertation, sie ist die erste Frau überhaupt, die mit einem psychoanalytischen Thema den Doktor der Medizin erhält.
In ihrer Arbeit schreibt sie von der Fallperson als «minderwertige Psychopathin». Dabei bedient sie sich des gängigen Jargons ihres Studiums, das sich an rassistischen, bevölkerungspolitischen Theorien anlehnt. In der Schweiz, ganz besonders in Zürich, werden Eugenik und Rassenlehre von Auguste Forel und dessen Nachfolger Eugen Bleuler gelehrt.
Auch praktisch werden diese Ideen umgesetzt mit Anstaltsanweisungen, Kindswegnahmen, Eheverboten, Zwangssterilisation und Kastration. Alles ist schon da, die Nationalsozialisten werden sich dieses Instrumentariums in einer Konsequenz bedienen, die an Grausamkeit nicht zu überbieten ist.
Sabina denkt noch immer viel an Jung, diesen Mann, der ihr alles gleichzeitig ist, Mentor, Vorbild, Elternersatz – und in Gedanken noch immer Geliebter und Vater ihres imaginären Söhnchens, das sie nach Wagners Oper «Ring des Nibelungen» Siegfried tauft.
Der Gedanke, dass die Liebe sich erst im Tod gänzlich erfüllt, inspiriert sie zu ihrer Schrift «Die Destruktion als Ursache des Werdens» (1912). Darin beschreibt sie den Todeswunsch als Teil der Libido, den Fortpflanzungstrieb als etwas, was immer auch Angst und Ekel auslöst, der zuerst überwunden werden müsse. Aus Sabinas Idee wird Freud seine umstrittenste und spekulativste Theorie entwickeln – die vom Todestrieb.
Sie ist jetzt Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Eine weitere Frau sitzt in diesem erlesenen Kreis: die Kinderärztin Margarete Hilferding, die als erste feststellte, dass es angeborene Mutterliebe nicht gibt, da viele Mütter feindliche Gefühle gegenüber ihren Kindern hegten.
Über ihre Heirat mit dem Rostower Arzt Pawel Scheftel verrät Sabinas Tagebuch nicht mehr als diesen kryptischen Satz:
Und selbst als ihre Tochter Irma-Renata auf die Welt kommt, schleichen ihre Gedanken sich zum ehemaligen Geliebten und der Phantasiefrucht Siegfried. Inzwischen haben sich Freud und Jung gänzlich zerstritten, «mein persönliches Verhältnis zu Ihrem germanischen Heros ist definitiv in die Brüche gegangen», schreibt Freud Sabina.
Pawel erhält seinen Mobilisierungsbefehl und kehrt nach Russland zurück. Seine 29-jährige Gattin will mit dem Kind im Westen bleiben.
Im Ersten Weltkrieg fallen vier Millionen russische Soldaten, aus dem Generalstreik im Zarenreich wird eine Revolution, der Bürgerkrieg verwüstet das Land, die Wirtschaft kracht zusammen, Typhus, Cholera und die Ruhr reissen unzählige Menschen in den Tod. 1921 verhungern fünf Millionen Menschen. Die Rote Armee siegt im Jahr darauf – die Sowjetunion wird gegründet.
Sabina wohnt derweil in Lausanne, dann in Genf, wo sie als Psychoanalytikerin arbeitet und Kurse am Jean-Jacques-Rousseau-Institut gibt. Dort lernt sie auch den jungen Jean Piaget kennen, in dessen Arbeiten einiges von Sabinas Gedanken einfliessen, und mit der er die Kinderpsychologie revolutionieren wird.
Zum ersten Mal verdient sie ihr eigenes Geld, doch es reicht nicht, sie muss sich und ihr dauerkrankes Kind mit Näharbeiten über Wasser halten. Ihr Vater Nikolai versucht seiner Tochter Geld in die Schweiz zu schicken. Lenin hat mit seiner Neuen Ökonomischen Politik (NEP) eine partielle Rückkehr zum kapitalistischen System beschlossen, damit sich das Land erholen kann. So waren die Spielreins in der Lage, einiges von ihrem Vermögen zu retten. Doch Sabina, die in der kriegsverschonten Schweiz lebt, nagt am Hungertuch.
1923 kehrt sie in ihre Heimat zurück, zu ihrer Familie und zu ihrem Mann; dorthin, wo sie eigentlich nicht sein wollte. Drei Jahre später, Sabina ist jetzt 41 Jahre alt, bringt sie ihr zweites Kind zur Welt, das sie nach ihrer verstorbenen Mutter Eva benannt.
Sabinas Vater ist ganz erfüllt von Stolz, am Aufbau des neuen Russlands mitzuwirken, ihre Brüder machen Karriere. Sabina ist die Psychoanalytikerin mit der besten Ausbildung im ganzen Land, sie gibt Kurse für Ärzte, Pädagogen, Psychologen und Studenten.
Unter der Protektion Leo Trotzkis gedeiht die Psychoanalyse in der Sowjetunion – er hat den «Freudismus» während seines Exils in Wien kennengelernt. Dem Fach werden machtpolitische Ziele aufgehalst; es soll zur Erschaffung des neuen Menschen beitragen, die Kollektiverziehung vorantreiben und all die herumstreunenden, raubenden Waisenkinder mittels neuer Pädagogik zu wertvollen Staatsmitgliedern umerziehen.
Doch als Lenin 1924 stirbt, fällt auch «Judas Trotzki» in Ungnade und der Eispickel, der seinen Schädel im mexikanischen Exil spaltet, tötet auch gleich die sowjetische Psychoanalyse.
Sie teilt das Schicksal mit vielen anderen Wissenschaften. Stalin hat sie allesamt beerdigt. Er will «Arbeiterwissenschaften», «Arbeitstechnologien», geboren aus «proletarischer Intelligenz».
Und während der Freudismus in der Sowjetunion als reaktionäre Theorie denunziert wird, begleitet in Berlin Goebbels Feuerspruch die Schriften Freuds in die Flammen.
Jetzt tritt Jung auf die verwaiste Bühne der Psychoanalyse. Endlich, so muss der in Wien so verhasste Schweizer sich gedacht haben, werden meine Theorien offiziell anerkannt. Jung lässt sich feiern als der Mann, der der «zersetzenden» Psychoanalyse Freuds seine aufbauende Seelenlehre entgegenstellt. Er übernimmt die Redaktion des Zentralblattes für Psychotherapie, in dem er 1934 verlauten lässt:
1937 hört das Herz von Sabinas Mann Pawel auf zu schlagen. Es ist das Jahr, in dem die Stalinschen Säuberungen ihren Höhepunkt erreichen. Die Offiziere der NKWD fahren mit ihren schwarzen Limousinen durch die Strassen und holen in der Nacht «verdächtige» Leute aus ihren Betten. Sabinas Bruder Isaak, ehemals Leiter der Psychotechnik, wird hingerichtet und im Massengrab auf dem Moskauer Gebiet verscharrt. Ihr Bruder Jascha, Professor für Energetik, wird ein Jahr darauf ermordet. Der jüngste Bruder Emil, der experimentelle Biologie an der Universität Rostow lehrte, wird im Juni exekutiert. Ihr Vater Nikolai stirbt einen Monat darauf – aus Kummer.
Als im Juni 1941 deutsche Flugzeuge damit beginnen, russische Flugplätze und Städte anzugreifen, wohnt Sabina mit ihren Töchtern noch immer in Rostow. Die Stadt wird «das Tor zum Osten» genannt, mit seinen vier grossen Eisenbahnlinien ist sie ein wichtiges strategisches Ziel Hitlers, dessen «Unternehmen Barbarossa» von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant wurde. Lebensraum im Osten soll geschaffen werden.
Am 22. November wird die Einnahme Rostows nach Berlin gemeldet. Doch noch immer wird geschossen, bald hält die NKWD die Verwaltung der Stadt wieder in Händen. 800 Personen werden der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigt und hingerichtet. Die Einwohner werden zu Zwangsarbeiten herangezogen, viele erfrieren elendiglich oder sterben vor Erschöpfung bei dem Versuch, Befestigungsanlagen zu bauen.
Sabina bleibt in der Stadt. Vielleicht hat sie nicht geglaubt, was über die Faschisten erzählt wird. Sie, die ihr halbes Leben in Deutschland und der Schweiz verbracht hat.
In der Sommeroffensive 1942 erlangen die Deutschen die Oberhand in Rostow. Sabinas Haus wird zerbombt, elf Tage harrt sie mit Renata und Eva in einem Keller aus. Das SS-Sonderkommando 10a schätzt grob 200'000 bis 300'000 verbliebene Einwohner.
Bald werden Plakate ausgehängt, zur Täuschung vom jüdischen Ältestenrat unterschrieben. Alle Juden sollen sich zu ihrem Schutze registrieren lassen. Daraufhin sollen sie sich an den jeweiligen Sammelplätzen einfinden.
Auch die 56-jährige Sabina steht zur vorgegebenen Zeit bereit, von ihren Töchtern gestützt. Sie werden von Wagen abgeholt. Wer zu langsam einsteigt, wird reingeprügelt. Sie fahren zur Schlangenschlucht, wo sie in einem leerstehenden Haus alle Wertsachen abgeben müssen. Nackt werden sie hinter dem Haus wieder abtransportiert.
Fünf Kilometer nordwestlich von Rostow haben die Gefangenen der Roten Armee in einem Wäldchen bereits dreizehn Gruben ausgehoben. Den Bewohnern von «2-ja Smijowka» wurde befohlen, das Dorf wegen Schiessübungen zu verlassen. Ein Augenzeuge berichtet:
Im Holocaust-Archiv der Gedenkstätten Yad Vaschem in Jerusalem steht unter dem Namen Sabina Spielrein: «1942, gestorben mit allen Juden, Rostow am Don.»