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Frauen der Geschichte

Clara Immerwahr: Der Kampf für eine humane Wissenschaft

Das bittere Ende der Frau, die den «Vater des Gaskriegs» nicht stoppen konnte

Schlacht an der Somme, 1916.Bild: wikimedia
Frauen der Geschichte
Clara Immerwahr war eine der ersten Frauen mit einem Doktortitel. Die Chemikerin heiratete Fritz Haber und versuchte ihr Leben lang, den «Vater des Gaskriegs» davon abzubringen, die Wissenschaft in den Dienst des Bösen zu stellen.
28.05.2017, 20:0329.05.2017, 08:16
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Clara Immerwahr hat es geschafft. Im Jahr 1900 verteidigt sie ihre Doktorarbeit über schwer lösliche Salze vor ihren Professoren der Universität Breslau – als erste Frau.

«Ich schwöre, dass ich niemals in Wort oder Schrift etwas lehren werde, was meiner Überzeugung widerspricht. Dass ich vielmehr die Wahrheit zu fördern und das Ansehen der Wissenschaft nach Kräften zu heben bestrebt sein werde.»
Deutsche Formel des Doktoreids
Clara Immerwahrs Doktorarbeit.
Clara Immerwahrs Doktorarbeit.bild: max-planck-gesellschaft

Clara gefallen die Worte, sie spricht sie aus vollem Herzen. Fräulein Immerwahr habe wacker und tapfer «wie ein Mann» ihre Dissertation verteidigt, lobt der Dekan und betont, dass jeder, unabhängig von Geschlecht, Konfession, Rasse oder Nationalität in der Wissenschaft willkommen sei. Aber mit der vor ihm stehenden «doctissima virgo» solle keine neue Ära anbrechen, in der Frauen es sich zur Gewohnheit machten, in die Universitäten zu strömen. Vielmehr sollten sie ihre schönste und heiligste Pflicht erfüllen – und der Hort der Familie sein.

Clara war sich die Seitenhiebe der Männer gewohnt. Und hätten diese sie geschwächt, so wäre sie diesen steinigen Weg niemals gegangen. 

Clara Immerwahr als Studentin.
Clara Immerwahr als Studentin.bild: wikimedia

Sie wurde am 21. Juni 1870 nahe Breslau in Schlesien, mitten in die deutsche Reichsgründung hineingeboren. In eine Zeit, in der die Frauen begannen, für ihre Rechte zu kämpfen, und sich viele Männer vor dem «Weiberstaat» fürchteten. Nicht mehr lange, so prophezeite ein Redaktor der «Deutschen Tageszeitung» düster, und Männerknochen seien höchstens noch ein Relikt aus finsteren, barbarischen Zeiten, als die Chemie den Mann noch nicht ganz überflüssig machte:

«Zuerst fliegen die Männer aus den gelehrten Berufen ... Schon jetzt ragen Damen auf dem Gebiet der tierquälerischen Naturforschung hervor, schon jetzt haben Damen auf den Gebieten der Chemie und der Prähistorie eine führende Stellung ... sie werden ihre Schwestern in die Redaktionen bugsieren und dann beherrschen sie die öffentliche und die private Meinung ... es fragt sich alsdann, ob die Männer selbst in ihren vier Wänden noch ein Wort sagen dürfen ... die Männer werden froh sein, wenn sie noch in der Küche und in oder vor der Kinderstube eine Beschäftigung finden.

Radikal wie das weibliche Geschlecht mal nun ist, wird es darauf hinarbeiten, dass nur einige wenige Männer, die schönsten und stärksten zur Erhaltung der Rasse Verwendung finden ... die Wissenschaft, von Frauen zur höchsten Blüte gebracht, wird Mittel finden, um den Mann überhaupt ganz und gar überflüssig zu machen ... Hoffentlich werden die Frauen des kommenden Weiberstaates auch folgerichtig genug sein, das Wörtchen ‹man› durch ‹weib› zu ersetzen ... nicht ‹man ermannte sich› sondern ‹weib erweibte sich›.» 
«Deutsche Tageszeitung», 1907
Teilnehmerinnen des Frauenstimmrechtskongresses in München, 1912. 

Während die einen geneigt sind, den Frauen sehr viel zuzutrauen, halten sie andere von Natur aus für weniger begabt als die Männer. Wilhelm Ostwald, der 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, war der Ansicht, dass Frauen nicht für die wissenschaftliche Arbeit geeignet seien.

Clara war voller Bewunderung für diesen Mann. Sie hatte ihn ehrfürchtig in ihrer Doktorarbeit zitiert. Jetzt schäumte sie. Ohne Frauen, die den ganzen alltäglichen Kram von ihren Männern fernhielten, wären diese doch ausserstande, ihre grandiosen Erfindungen zu machen. 

Clara war wissensdurstig, viel mehr als ihre Schwestern und dieser Durst war es dann auch, der ihr die Kraft und das Selbstbewusstsein verlieh, für ihre Bildung zu kämpfen. Erst besuchte sie die höhere Töchterschule, weil ihr das Gymnasium verwehrt blieb. Mit Privatstunden und Vorträgen des Volks- und Frauenbildungsvereins versuchte sie, ihre Lücken zu stopfen. 

Noch bevor sie das Lehrerinnenseminar antrat, lernte sie Fritz Haber kennen. Diesen galanten jüdischen Mann, der seine Worte und Sprüche stets mit Bedacht wählte. In der Tanzstunde begegnet sie ihm zum ersten Mal – und verliebt sich sofort.

Fritz Haber als Doktorand, 1891.
Fritz Haber als Doktorand, 1891.bild: max-planck-gesellschaft

Fritz muss es genauso ergangen sein. Er will Clara auf der Stelle ehelichen. Doch erst soll er unterhaltungsfähig sein, meint Claras Vater, während Clara selbst über die ganze Institution Ehe nachgrübelt. Sie will nicht einfach der Putz eines Mann sein. Sie will etwas Eigenes sein.

Der Gang nach Canossa: Claras Weg zum Doktortitel

«Ich will mich deinen Bestrebungen nicht widersetzen, aber du schwimmst gegen den Strom und das ist nicht leicht.»
Claras Vater, Philipp Immerwahr

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Fritz geht nach Berlin, um Chemie zu studieren. Clara wird das über Umwege auch gelingen. Sie darf am Gymnasium als Gasthörerin Vorlesungen besuchen, legt dort die Freiwilligenprüfung als Externe ab. Sie spricht beim Rektor der Universität Breslau vor und bei den naturwissenschaftlichen Dozenten, um eine Sonderbewilligung zu bekommen. Die meisten Professoren sind von der strebsamen jungen Frau nicht gerade begeistert:

«Ich halte nichts von geistigen Amazonen.»
Geheimrat Meyer, Dozent für Experimentalphysik

Ein anderer Dozent verwehrt Clara das Gespräch. Sie schneidet sich die Haare kurz. Doch im Grunde bleibt sie eine stille Rebellin und würgt die Beleidigungen runter wie zähes Fleisch. Zuhause schmeisst sie den Haushalt für ihren Vater und macht die Experimente nach, die in Jane Marcets «Unterhaltungen über die Chemie» stehen. Ein Buch, von einer Frau für nicht vorgebildete Frauen geschrieben. Fast hundert Jahre bevor Clara darin blättert.

Die schweizerisch-englische Schriftstellerin Jane Marcet (1769-1858) schrieb ihre verständlichen naturwissenschaftlichen Bücher erst unter einem Pseudonym, später unter eigenem Namen. «Unterhaltungen  ...
Die schweizerisch-englische Schriftstellerin Jane Marcet (1769-1858) schrieb ihre verständlichen naturwissenschaftlichen Bücher erst unter einem Pseudonym, später unter eigenem Namen. «Unterhaltungen über die Chemie» war das meistverkaufte Buch der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.bild: rsc.org

Claras Freundin sitzt als einzige Frau in den Medizinvorlesungen der Universität Breslau. Einleitend richtet ihr Professor die folgenden Worte an seine Hörerschaft: «Ich kenne die Frauen, das hält keine durch!» Die Freundin antwortet ihm:

«Ja, Sie kennen die Frauen aber meist, wenn sie krank sind.»
Clara Bender, Freundin von Clara Immerwahr

Als Richard Abegg Abteilungsvorsteher der philosophischen Fakultät wird, steht Claras Doktorarbeit nichts mehr im Wege. Er lässt sie frei im Labor arbeiten, fördert und füttert ihren Geist. Die Doktorwürde erhält sie mit der Auszeichnung magna cum laude.

Richard Abegg (1869-1910), Claras Doktorvater und enger Freund.
Richard Abegg (1869-1910), Claras Doktorvater und enger Freund.bild: wikimedia

Clara entscheidet sich für die Ehe

Fritz Haber ist inzwischen ausserordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Karlsruhe – und er will mehr. Doch selbst als getaufter Jude, als verspotteter «Kunstarier», der nur aus Gründen der Universitätslaufbahn zum Christentum übergetreten sei – hat er es nicht leicht.

Juden tragen dieselben Lasten wie alle anderen Staatsbürger, aber die staatliche Verwaltungslaufbahn, hohe Richterämter und Offiziersposten bleiben ihnen versperrt. Eine langjährige Tradition in Deutschland. 

Antisemitische Postkarte, die den Mythos der jüdischen Finanzherrschaft aufgreift, Deutschland, um 1910.
Antisemitische Postkarte, die den Mythos der jüdischen Finanzherrschaft aufgreift, Deutschland, um 1910.bild: deutsches historisches museum

Von Ehrgeiz getrieben und verbissen wälzt sich Fritz nun durch die Thermodynamik. Er will immer ein bisschen besser sein als seine Kollegen. Er muss es, um seinen «Makel» auszugleichen.

Auch Clara ist inzwischen keine Jüdin mehr. Ihr Vater besuchte niemals die Synagoge und überliess es seinen Kindern, wie sie es mit der Religion halten wollen. Clara konnte sich mit dem Judentum nicht identifizieren, am wenigsten mit Theodor Herzls zionistischen Ideen eines jüdischen Staates. Sie ist Deutsche – nicht mehr und nicht weniger.

Er wolle, dass Clara ihm mit ihrem Wissen beisteht, schreibt Fritz ihr in einem Brief. Und nicht nur das: Er habe sich zehn Jahre lang redlich bemüht, sie zu vergessen. Ohne Erfolg.

«Lass dich erbitten, es mit mir zu versuchen.»
Fritz Haber an Clara in seinem Brief
Diesmal nimmt Clara den Heiratsantrag von Fritz an.
Diesmal nimmt Clara den Heiratsantrag von Fritz an.bild: dhm

Clara lässt sich erbitten. Weil sie stolz ist, dass Fritz sie um Hilfe bittet. Ihre akademische Laufbahn als Frau würde sowieso als Laboratoriumsassistentin enden. Mit einem Chemiker an ihrer Seite, der ihr fachliches Wissen schätzt, wer weiss, was da noch für sie rausspringt? 

1901 heiraten die beiden und Clara zieht zu Fritz nach Karlsruhe. Sie korrigiert seine polemisch tönenden Manuskripte, aus deren Zeilen sie die Profilierungssucht ihres Mannes mit Widerwillen herausliest.

«Zum Arbeiten im Laboratorium werde ich wohl kaum mehr gelangen, denn vorläufig gehe ich in Wirtschaft und Näharbeit unter. Vielleicht später einmal wieder, wenn wir Millionäre sind und uns eine Dienerschaft halten können. Denn ganz darauf verzichten kann ich selbst in Gedanken nicht.»
Clara Immerwahr in einem Brief an Richard Abegg, 1901

Im selben Jahr wird das erste Mal der Nobelpreis verliehen. Alfred Nobel – der Erfinder des Dynamits – hatte auf Anraten der Friedenforscherin Bertha von Suttner in seinem Testament verfügt, Geld für «den edlen Kampf gegen die menschliche Dummheit und Grausamkeit» zu stiften.

«Mit der Ära der Sprengstoffe und der Elektrizität ist in des Menschen Hand eine Vernichtungsgewalt gelegt, die es erheischt, dass fortan die Menschlichkeit zur Wahrheit werde.»
Bertha von Suttner
Bertha von Suttner wurde 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Ihr Buch «Die Waffen nieder!» (1889) wurde weltberühmt, wenn auch begleitet von unzähligen Verrissen in den damal ...
Bertha von Suttner wurde 1905 als erste Frau mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Ihr Buch «Die Waffen nieder!» (1889) wurde weltberühmt, wenn auch begleitet von unzähligen Verrissen in den damaligen Zeitungen. bild: wikimedia

Nobel hatte der Pazifistin entgegnet:

«Meine Dynamitfabriken werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende machen als Ihre Friedenskongresse: An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden.»
Alfred Nobel
Der schwedische Chemiker und Erfinder Alfred Nobel (1833-1896). bild: alfrednobel

Er sollte sich täuschen.

Die unheilige Allianz mit der Wirtschaft

Der kleine Hermann, den Clara ein Jahr später zur Welt bringt, ist ein kränklicher Junge – und auch Fritz verausgabt sich gesundheitlich immer mehr, so dass sie nun zwei pflegen muss.

Wie ein giftiges Gas schleicht sich in Fritzs Liebe zur Chemie auch der Erfolgsgedanke. Er hat es mit 37 zum ordentlichen Professor geschafft. Fortan widmet er sich der Ammoniaksynthese – der Grundlage für die grosstechnische Erzeugung von Stickstoffdüngern und Sprengstoffen. Damit kann man Menschen ernähren – oder vernichten.

«Es gibt überhaupt keinen chemischen Stoff, der nicht zugleich den friedlichsten Industriezweigen dienen und ein Träger des Todes werden könnte.»
Clara Immerwahr

Walther Nernst hatte gerade den dritten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert und die Vorzüge des höheren Drucks bei der Ammoniaksynthese beschrieben. Fritz Haber wird die Umsetzung der Idee gelingen. 

Der Chemiker und Physiker Walther Nernst (1864-1941). Für seine Arbeiten in der Thermochemie wird er 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten.
Der Chemiker und Physiker Walther Nernst (1864-1941). Für seine Arbeiten in der Thermochemie wird er 1920 den Nobelpreis für Chemie erhalten.bild: wikimedia

Clara ist inzwischen im Arbeitsbereich ihres Mannes nicht mehr länger erwünscht. Repräsentieren soll sie, die Gattin des erfinderischen Professoren mimen. Weil ihr das nicht genügt, hält sie Vorträge über «die Chemie in der Küche» für den Frauenverein. Die Frauen sind begeistert, die meisten Männer belächeln sie. Der Haushalt ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Die Frau arbeitet darin, nicht darüber.

Fritz steht kurz vor dem Durchbruch, und Clara schaut mit Unbehagen zu, wie ihr Mann seine Forschungen nach den Bedürfnissen der Industrie ausrichtet, um Gewinne einzufahren. Der Chemiekonzern BASF hat bereits ein Patentrecht auf eine von Habers Erfindungen erworben, der Vertrag zur Ammoniaksynthese ist noch geheim. 

Bis es endlich heisst: 

«Es tropft, es tropft!»
Fritz Haber

Die Systhese ist nach 90 Stunden Experiment endlich gelungen. 1909 wird sie dem BASF-Vertreter Bosch vorgeführt, der die grosstechnische Umsetzung durchführen soll. Das Haber-Bosch-Verfahren wird die Agrarchemie revolutionieren.

Fritz Haber (rechts) beobachtet einen Versuch in seinem Labor, 1918. 
Fritz Haber (rechts) beobachtet einen Versuch in seinem Labor, 1918. bild: max-planck-gesellschaft
Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das und mehr, habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit ... Wollte ich selbst noch mehr von dem bisschen Lebensrecht opfern, das mir geblieben ist, so würde ich Fritz zum einseitigsten, wenn auch bedeutendsten Forscher eintrocknen lassen, den man sich denken kann. Fritzens sämtliche menschlichen Qualitäten ausser dieser einen sind nahe am Einschrumpfen und er ist sozusagen vor der Zeit alt ...
Clara in einem Brief an Richard Abegg

Die Kollegen von Fritz glauben, Clara sei eine schwerlebige Frau, die mit ihrem amüsanten und geistreichen Gatten schlicht nicht mithalten kann. Doch es ist mehr. Sie spürt, wie er ihr unaufhaltsam entgleitet und zum reinen Macht- und Erfolgsmenschen wird – ohne einen Funken wissenschaftlichen Idealismus.

1911 wird Fritz Leiter des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem. Marie Curie erhält den Nobelpreis für Chemie und wird in den Zeitungen als «Radiumcirce» beschimpft, während Fritz und seine Kollegen vom Kaiser höchstpersönlich mit Titeln, Medaillen und Ehren überhäuft werden. 

Marie Curie (1867-1934) entdeckte gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Curie die chemischen Elemente Polonium und Radium. 1903 wurde ihr ein anteiliger Nobelpreis für Physik und 1911 der Nobelpreis für Che ...
Marie Curie (1867-1934) entdeckte gemeinsam mit ihrem Mann Pierre Curie die chemischen Elemente Polonium und Radium. 1903 wurde ihr ein anteiliger Nobelpreis für Physik und 1911 der Nobelpreis für Chemie zugesprochen.bild: wikimedia

Fritz Haber hat es trotz «jüdischer Gene» zum Geheimrat gebracht und tritt nun pompös auf. Im zweiten Stock seines Instituts sitzt der ungekämmte Albert Einstein, der Wurstbrötchen in seine Aktentasche stopft und seine Bleistiftberechnungen auf Einwickelpapier macht.

Im Krieg gehört Fritz dem Vaterland und Clara dem Tod

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird die Ammoniaksynthese immer wichtiger. Durch die Seeblockade der Alliierten ist Deutschland vom chilenischen Salpeter abgeschnitten – dem Grundstoff für Kunstdünger, Schiesspulver und andere Explosivstoffe. Die Ammoniakfabriken müssen nun den Ausgleich schaffen. Fritz wird vom Kriegsministerium zum Chef der Zentralstelle für Chemie ernannt. 

Die Ammoniak-Fabrik der BASF in Oppau, 1914.bild: savings-revolution

Im Krieg sollen plötzlich die Frauen gleichberechtigt neben den Männern stehen. Der Staat fordert die unmittelbare Mitarbeit aller. Frauenbewegungen, die sich gegen den Krieg wenden, werden als Vaterlandsverräterinnen verschrien. Doch die meisten Frauen sehen den Krieg als Chance, endlich ihre Fähigkeiten zu beweisen. Und sie gebären weiterhin Kinder, damit der Staat genug Soldaten hat. 

«Wir werden diesen Kampf zuende kämpfen als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Beethoven und Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.»
Appell an die Kulturwelt, unterschrieben von 93 Wissenschaftlern, u.a. Fritz Haber und dem Physiker Röntgen

Die Zeitungen melden nur Siege, und keiner spricht davon, wie sinnlos an der Front um wenige Kilometer Erde gekämpft wird, wie die Soldaten in ihren Schützengräben hocken und sich gegenseitig zu Tausenden zerfetzen. 

Während der Schlacht an der Somme, an der Westfront 1916: Die britisch-französische Grossoffensive gegen die deutschen Stellungen dauerte vom 1. Juli 1916 bis zum 18. November desselben Jahres und blieb ohne militärische Entscheidung. Mit einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten war sie die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs.bild: slideshare

Claras Sohn Hermann kommt von der Schule nach Hause und berichtet freudig: «Mutter, wenn die Reichsbank viel Gold hat, können wir 20 Jahre lang Krieg führen.» 

Die Familie Haber wird indessen reich. Fritz bekommt für jedes Kilogramm Ammoniak 1,5 Pfennige, in Kriegszeiten ist das jährlich eine Million Mark. Als der Stellungskrieg keinen Sieger hervorzubringen scheint, wendet sich der preussische Kriegsminister Falkenhayn an Fritz. Er soll nach Giften forschen, die den Gegner aus den Gräben treiben und seine Kampfkraft dauerhaft schädigen. 

Clara wird schlecht. Sie spürt die Verantwortung als Wissenschaftlerin. Sie sucht immer wieder das Gespräch mit Fritz, mit den Wissenschaftlern im Kaiser-Wilhelm-Institut. Niemand hört ihr zu.

«Der Wissenschaftler gehört im Frieden der Menschheit, im Krieg aber dem Vaterland.»
Fritz Haber

Was für Clara die perverse Umkehrung von Wissenschaft ist, ist für Fritz die logische Konsequenz aus dem industriellen Fortschritt, man stehe im Wettrennen mit den anderen Nationen. Gemeinsam mit der Farbenindustrie sucht er praktikable Kampfstoffe für die grosstechnische Giftgasproduktion. Chlor scheint sich besonders gut zu eignen.

Die Begasung der Versuchstiere bringt den erhofften Erfolg. Nun soll die Kriegstauglichkeit der Haberschen Chlorgasflaschen auf dem Schiessplatz Köln/Wahn getestet werden. Clara begleitet ihren Mann an die Westfront und versucht das Pionierregiment, das im Gaskrieg trainiert werden soll, von der ungeheuren Vernichtungskraft des Kampfstoffs zu überzeugen. Es sei doch die Erlösung vom Grabenkrieg, bekommt sie zur Antwort. 

Fritz Habers (links) Einsatz an der Front: Seine Erfindung wurden vom deutschen Kriegsministerium als unbedenklich eingestuft. Es verletze das Völkerrecht nicht, weil es sich um Flaschen, nicht um gif ...
Fritz Habers (links) Einsatz an der Front: Seine Erfindung wurden vom deutschen Kriegsministerium als unbedenklich eingestuft. Es verletze das Völkerrecht nicht, weil es sich um Flaschen, nicht um giftige Geschossfüllungen handle. Was für eine zynische Auslegung.bild: fritz-haber-und-cwaffen

Sie kehrt verzweifelt nach Berlin zurück, während Fritz bereits in Ypern an der Front steht. Mit seiner selbst entworfenen, roten Phantasieuniform, von der er sich den nötigen Respekt erhofft. Wegen seiner jüdischen Herkunft hat er nur den Rang eines Vizewachtmeisters. 

«Die Geschichte der Menschheit hat nicht die Möglichkeit gelehrt, wirksame Kampfmittel aus der Kriegsführung auszuscheiden ...»
Fritz Habers Rechtfertigungsversuch im Brief an Clara

Clara will die Briefe aufbewahren. Als Zeugnisse dieses menschenverachtenden Wahnsinns – und als Warnung für die kommenden Generationen. Fritz wartet lange auf günstigen Nordwind. Etliche Male muss der Einsatz wieder abgebrochen werden – die Engländer rufen schon aus ihren Gräben: «German, no good wind? Wann kommt Gas?»

Am 22. April 1915 verlangt niemand mehr danach. Die deutschen Soldaten öffnen die Hähne der 6000 Flaschen und eine haushoche Gaswolke wälzt sich über die Gräben in Richtung Feind.

Senegalesen, Marokkaner, Algerier, Inder, Türken und Kanadier liegen tot auf der Erde. Die Franzosen und Engländer schickten ihre eigenen Landsleute wohl lieber nicht ins Gas. 18'000 Mann beträgt der Verlust auf französischer Seite an diesem Tag. Dazu kommen die Engländer.

Alle versuchten ein Giftgas zu finden, aber den Deutschen ist es gelungen. Der Angriff bei Ypern war ein Kriegsverbrechen – schon 1915.
Alle versuchten ein Giftgas zu finden, aber den Deutschen ist es gelungen. Der Angriff bei Ypern war ein Kriegsverbrechen – schon 1915.bild: dw

Im deutschen Lager hebt der Gaskrieg sichtlich die Stimmung der kriegsmüden Soldaten. Endlich wird der Stellungskrieg in einen Bewegungskrieg überführt!

Fritz kehrt als Hauptmann befördert nach Berlin zurück. Er lässt sich in seiner Villa feiern, alle sollen ihn bewundern in seiner neuen, glänzenden Uniform. Endlich spielt die Chemie eine Hauptrolle. Endlich spielt Fritz eine. Er ist am Ziel – und Clara am Ende. Der gefeierte Hauptmann wirft seiner Gattin vor, dass sie ihm in den Rücken gefallen sei als Deutschland sich in grösster Not befand. Sie habe versucht, das Vertrauen zu zerstören, dass das Militär in ihn hatte. Das sei nicht zu verzeihen. 

Den Schuss hört nur Hermann. Fritz hat sich mit Schlafmitteln vollgepumpt. Clara hat sich mit der Dienstwaffe ihres Mannes ins Herz geschossen. Zwei Stunden lebt sie noch. Am gleichen Tag eilt Fritz Haber an die Ostfront. 

Claras Abschiedsbriefe sind verschwunden. In der Grunewald-Zeitung vom 8. Mai 1915 steht:

«Durch Erschiessen ihrem Leben ein Ende gesetzt hat die Gattin des Geheimen Regierungsrates Dr. H. in Dahlem, der zur Zeit im Felde steht. Die Gründe zur Tat der unglücklichen Frau sind unbekannt.»
Das für den Artikel verwendete Buch:
Gerit von Leitner: Der Fall Clara Immerwahr – Leben für eine humane Wissenschaft.

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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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FrancoL
28.05.2017 21:35registriert November 2015
Eine lehrreiche Geschichte. Eine bewunderswerte Frau.
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Sanchez
28.05.2017 22:43registriert März 2014
Bester Watson Beitrag dieser Woche.
Thanks a lot!
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giandalf the grey
28.05.2017 21:32registriert August 2015
Danke für solche Artikel! Gibt's in Zeiten des Verlagsterbens leider immer seltener...
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