Das Verb «lügen» konjugiert sich wie folgt: Ich lüge, Sie lügen, wir alle lügen. Wir übertreiben, schwindeln, flunkern, täuschen. Mehrmals am Tag – oft, ohne es überhaupt zu merken. Das ist die unangenehme Wahrheit. Wenn Sie das nicht glauben, belügen Sie sich wohl selber.
Alle lügen, aber niemand will belogen werden. Auf jede lange Nase, davon gehen Psychologen in der Fachliteratur aus, kommen pro Tag 200 Lügen. Zwei Fremde belügen sich in einem Gespräch von mindestens zehn Minuten Dauer durchschnittlich dreimal. Das sind Schätzungen; genau weiss es niemand.
Schon Babys lernen das Flunkern: Ab dem sechsten Monat schreien sie manchmal nur dann, wenn sie sich zuerst vergewissert haben, dass wirklich jemand zuhört. Männer lügen, falls eine Studie des Londoner «Science Museum» zutrifft, in Alltagssituationen durchschnittlich 1092 Mal im Jahr, und zwar am meisten über die Menge des konsumierten Alkohols. Frauen kommen nur auf 728 Mal.
Natürlich kommt der flexible Umgang mit der Wahrheit nicht von ungefähr. Lügen verschaffen uns nicht nur individuelle Vorteile, sie sind für das Zusammenleben unserer Spezies unabdingbar. Oscar Wilde nannte den Lügner das Fundament der zivilisierten Gesellschaft.
Auch Dan Ariely von der Duke-Universität in Durham/North Carolina kann unserem notorischen Geflunker etwas Positives abgewinnen: «Wir lügen weit weniger, als rationale Kosten-Nutzen-Analysen es uns erlauben», sagt der amerikanische Verhaltensökonom laut einem Artikel im «Focus».
Die meisten Menschen versuchen also nicht, sich mit kalkulierten Lügen überall den grösstmöglichen Vorteil zu erschwindeln. Das Bedürfnis, sich selber als ehrlichen Menschen zu verstehen, weist den Eigennutz in Schranken.
«Wichtiger als erschlichene Gewinne sind uns ein positives Selbstbildnis und der Respekt unserer Mitmenschen», sagt Ariely, der das Thema in seinem Buch «Die halbe Wahrheit ist die beste Lüge: Wie wir andere täuschen – und uns selbst am meisten» eingehend behandelt.
Ariely verweist auf ein Experiment, bei dem er die Versuchsteilnehmer in zwei Gruppen 20 Rechenaufgaben lösen liess und ihnen danach für jedes richtige Ergebnis bis zu zehn Dollar bezahlte. In der einen Gruppe wurden die Lösungen kontrolliert, in der anderen durften die Teilnehmer ihre Ergebnisse selber auswerten. Danach durften sie die Blätter zerreissen und selbst angeben, wie viele Aufgaben sie richtig gelöst hatten.
Die Probanden hätten also problemlos behaupten können, sie hätten alle 20 Aufgaben gelöst. Das hätte ihnen 200 Dollar eingebracht. Sie gaben aber im Durchschnitt sechs gelöste Aufgaben an – nur zwei mehr als die Teilnehmer in der Kontrollgruppe.
Sie taten dies offenbar nicht, weil sie fürchteten, unglaubwürdig zu wirken. Selbst wenn die Versuchsleitung zuvor bekanntgab, dass bisherige Probanden durchschnittlich zehn Aufgaben gelöst hätten, wurde nicht mehr gelogen als sonst.
Es gehe um die Scham vor sich selbst, erklärt Ariely dieses Verhalten, das dem Modell des rational kalkulierenden Homo oeconomicus widerspricht. «Wir betrügen genau so viel, wie wir mit unserem Selbstbild als einigermassen ehrliche Menschen vereinbaren können.»
Um unser positives Selbstbild bewahren zu können, sind wir schnell bereit, uns unsere kleinen Notlügen schönzureden. Wir finden schnell eine Entschuldigung: Wenn wir den Schaden bei der Meldung an die Versicherung übertreiben, dann nur, weil alle anderen es auch tun. Und weil wir eh viel zu viel Prämien einzahlen mussten.
Was wir nicht wegentschuldigen, das nehmen wir gar nicht erst wahr: Bevor wir andere täuschen, täuschen wir uns selber.