Es war auf dem Velo, als Reto Togni die entscheidende Eingebung hatte. Er trat an einer Steigung kräftig in die Pedale und spürte ein Glücksgefühl, als sich sein Körper leicht hin und her bewegte. Das müsste man auf einen Rollstuhl übertragen können, dachte er sich.
Der Industrial Designer war damals gerade in London, wo er einen interdisziplinären Masterstudiengang in «Innovation, Design, Engineering» am Royal College of Art absolvierte, und recherchierte für seine Diplomarbeit. Nicht irgendein funktionales Möbelstück oder einen Gebrauchsgegenstand wollte er entwickeln, sondern: einen Rollstuhl.
Was bringt einen jungen Designer ohne körperliche Einschränkung auf die Idee, einen Rollstuhl zu bauen? Er sei ein Mensch, der sehr aufmerksam durch die Welt gehe, erklärt er. «Aber ich habe mir beim Anblick eines Rollstuhls nie gedacht, da müsste man mal was machen.» Es sei eher so ein Gefühl gewesen, dass man ihn auch anders denken könnte.
Immer wieder haben sich seine Wege mit Rollstuhlfahrern gekreuzt, wodurch er sensibilisiert wurde. Privat engagierte er sich auch in Sachen Barrierefreiheit für Festivalbesucher mit Behinderung. «Das Thema war bei mir immer irgendwie präsent.» Auch, weil ein Rollstuhl für ihn ein spannendes Objekt ist. «Viele Nutzer haben eine Art Hassliebe zu ihm, weil sie ihn sich nicht ausgesucht haben», sagt der Jung-Designer, der derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zürcher Hochschule der Künste arbeitet. Er bringt ihnen Freiheit und Mobilität und verkörpert gleichzeitig die Einschränkung.
Als er dann im Hinblick auf den Cybathlon in Zürich – einen Wettkampf für Athleten mit Behinderungen – zwei Design-Studenten betreute, rückte das Thema wieder in den Fokus. Er fand die vorgestellten Systeme zwar toll, fragte sich aber, ob es nicht noch einen anderen Ansatz gäbe als den hochtechnisierten. Also nutzte er die Veranstaltung, um mit Querschnittgelähmten zu sprechen. Aber auch von Freunden, die im Rollstuhl sitzen, erhielt er viele Inputs.
Rollstuhlfahren war bisher reine Handarbeit. Mit den Händen wird gelenkt, beschleunigt und gebremst. Zudem stellte Togni bei einem Selbsttest im Rollstuhl fest, dass Trottoirs meist leicht abschüssig sind, was dazu führt, dass der Rollstuhl in eine Richtung driftet. Und dann kam eben das Erlebnis auf dem Velo ins Spiel. «Man müsste den Rollstuhl freihändig manövrieren können, mit seitlichen Bewegungen», erklärt der 30-Jährige.
In der Büromöbelentwicklung gilt derjenige Stuhl als ergonomisch, der möglichst viele Bewegungen erlaubt. Wieso gilt dies nicht auch für Rollstühle? Und so begann er zu experimentieren und entwickelte ein Modell, bei dem entgegen der gängigen Lehre fast alles beweglich war.
Reagiro nennt er seinen Rollstuhl, der mit diesem Ansatz ziemlich revolutionär ist. Rassig sieht er aus mit der gepolsterten Sitzschale. Die Optik ist nicht allein die Attraktion. Er besitzt eine feste Vorderachse und wird durch die seitliche Verlagerung des Oberkörpers gelenkt.
Der Vorteil: Die Hände des Rollstuhlfahrers bleiben frei. Und noch einen weiteren gibt es: Durch die Steuerung mit dem Oberkörper wird der Rumpf des Rollstuhlfahrenden gestärkt. «Vermutlich hat der Stuhl auch einen therapeutischen Effekt», meint Togni stolz. Nun sollen klinische Tests folgen, die diesen Effekt belegen. Erste Tests mit Betroffenen hat er bereits gemacht. «It’s like dancing», fand die querschnittgelähmte Engländerin Samantha. Oder vielleicht auch wie das Carven beim Skifahren.
Reto Togni hat nun berechtigte Hoffnungen, dass sein Rollstuhl-Projekt nicht einfach in einer Schublade verschwindet. Der Zürcher hat damit nicht nur die Master-Arbeit mit Bestnoten abgeschlossen, sondern auch den Design-Preis «RC Helen Hamlyn Award» gewonnen.
Das Medienecho liess nicht lange auf sich warten. Sogar die Presseagentur Reuters sowie BBC haben darüber berichtet, und schon bald erreichten ihn Investitions- und Start-up-Coaching-Angebote aus aller Welt. Eben ist Reto Togni aus Dubai zurückgekehrt, wo er an der «Dubai Global Grad-Show» seinen Reagiro präsentieren konnte. Ja, er sei mit einem Rollstuhl-Hersteller im Gespräch, verrät er. Und ergänzt: «Sie behaupten sogar, dass mein Reagiro die grösste Veränderung sei seit der Erfindung des Rades.»
Sich mit einem Start-up selbstständig zu machen, kommt für ihn aber nicht infrage. «Ich bin ja Designer und nicht Rollstuhlhersteller.» Er hat noch so viele andere Ideen, die er umsetzen möchte. Gerade beschäftigt er sich mit einem Projekt über die digitale Identität und hat ein humanitäres Projekt laufen, das Fensterersatzmaterial entwickelt, das in Krisengebieten oder Naturkatastrophen eingesetzt werden soll.
Es wird aber wohl noch ein paar Jahre dauern, bis sein Reagiro seriell in Produktion gehen und vielen Rollstuhlfahrern den Alltag erleichtern wird. Denn noch müssen einige Hürden genommen werden, damit ein solcher Rollstuhl auch die entsprechenden Auflagen erfüllt. Dann können Betroffene mit einem Rollstuhl fahren, der nicht nur schön aussieht, sondern ihnen auch zu mehr Mobilität, Bewegung und Dynamik verhilft. (aargauerzeitung.ch)