Geben wir in eine der gängigen Internetsuchmaschinen den Begriff «Liebesbrief» ein, dann weist die Ergebnisliste durchwegs weit mehr als eine Million Treffer aus. In vielen Foren und Kommentaren wird dabei auch darüber debattiert, ob der Liebesbrief in der digitalen Gegenwart noch aktuell sei oder ausgedient habe oder aber: ob die Liebesbriefkultur nicht vielmehr wieder verstärkt gepflegt werden sollte.
Anleitungen und Tipps, wie denn ein romantischer, erfolgreicher, perfekter Liebesbrief zu schreiben sei, finden sich ebenfalls in grosser Zahl im Internet.
Fest steht: Mit der Digitalisierung hat sich auch die Liebeskommunikation gewandelt, das Spektrum der dafür zur Verfügung stehenden Medien ist vielfältig geworden: Wir simsen, mailen, posten, chatten, twittern, telefonieren mobil … Manch eine und einen beschleicht dabei offenbar auch Bedauern über eine neue, so wahrgenommene Profanität in den amourösen Botschaften – wie etwa den folgenden Schreiber im Onlineforum einer Tageszeitung:
Und wenn im selben Forum eine Frau «bekennt», sie habe kürzlich an ihren im Ausland weilenden Freund einen Liebesbrief «mit der Hand geschrieben, eingescannt und um die halbe Welt gemailt», dann ist erkennbar, dass dem klassischen Liebesbrief nach wie vor die Fähigkeit zugeschrieben wird, der Gefühlsbotschaft eine ganz besondere Bedeutung zu verleihen; und, da er zu Papier gebracht wird, auch eine besondere Dauerhaftigkeit, die sich der Flüchtigkeit der digitalen Medien entzieht.
Werfen wir vor diesem aktuellen Hintergrund einen Blick zurück ins sogenannte Zeitalter der Briefe, als das Korrespondieren in dieser Form weit verbreitet eine bedeutsame Rolle spielte, um Liebesbeziehungen anzubahnen, zu vertiefen und eine gemeinsame Zukunft zu entwerfen. Es war auch ungemein wichtig, um eine zeitweise Trennung zu überbrücken und um einander später an besondere Momente der Beziehungsgeschichte zu erinnern.
Von einer ausgeprägten Kultur des Liebesbriefes lässt sich ab dem 18. Jahrhundert sprechen, als sich in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft auch eine neue Kultur der Empfindsamkeit etablierte, die das private Korrespondieren zur Hochblüte brachte. Anleitungsliteratur für den idealen Liebesbrief, sogenannte Briefsteller, gab es auch damals: Ausführlich, authentisch, natürlich und lebendig sollte er sein und in der Sprache des Herzens verfasst. Das setzte (und setzt) freilich Schreibfertigkeit voraus und wurde daher zunächst einmal insbesondere im Bildungsbürgertum gepflegt.
beginnt ein Wiener Buchbindemeister und Verleger 1877 einen Brief an seine Frau, die den Sommer mit den Kindern auf dem Land verbringt. Die beiden schreiben sich regelmässig, um so im schriftlichen Gespräch das sonst gemeinsame Zusammenleben fortzusetzen. An diesem 29. September 1877, mit dem das Schreiben datiert ist, ist der Anlass aber ein besonderer:
Liebesbriefe bilden Gefühle nicht nur ab, sondern intensivieren, verändern sie. Gleichzeitig sind sie selbst durch die Konventionen ihrer Zeit formatiert, etwa durch das, was jeweils überhaupt sagbar ist und was nicht. So blieb beispielsweise das Sexuelle, wie hier in diesem Brief, historisch lange Zeit auf der sprachlichen Oberfläche verschlüsselt; diskrete Metaphern «wie der schöne und denkwürdige Abend, als unsere Herzen endlich laut wurden» verweisen auf das, was eigentlich gesagt werden wollte.
Die Kultur des Schreibens als zärtliche Geste der Verbundenheit fokussierte nicht nur auf den Liebesbrief im engeren Sinn, sondern entfaltete sich auch im Sinne oft umfangreicher schriftlicher Gespräche. So waren sogenannte Verlobungskorrespondenzen, in denen man sich gegenseitig besser kennenlernte und gewissermaßen ein ‹Wir›, einen gemeinsamen Paarkosmos aufbaute, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine häufige Praxis.
«Gewöhn Dich nur an solche Briefe», schreibt am 2. Januar 1896 eine frischverlobte Konstanze an ihr «liebes, liebes, innigstes Herzmanderl!», einen höheren Beamten.
Endlich dürfe sie ihn gernhaben, wie sie will, plaudert Konstanze weiter, «halt schon so schrecklich gern», jetzt, wo die Beziehung durch die Verlobung und die Zustimmung des Vaters legitimiert sei. «Er schätzt Dich sehr und hat Dich sehr gern und das macht mich so ungetrübt glücklich.»
Gerade im Rahmen der bürgerlichen Eheanbahnung war das Korrespondieren nicht immer nur etwas Intimes. Die Briefe konnten – wie der folgende aus dem Jahr 1910 zeigt – auch als von anderen zu lesende Liebesbeweise gedacht sein oder eingesetzt werden, um die Eltern von der Ernsthaftigkeit der Absichten zu überzeugen und ihre Zustimmung für eine Heirat zu erwirken. So schreibt die Fabrikantentochter Tilly ihrem «lieben Henri», einem Berliner Nervenarzt:
Schon im späten 19. Jahrhundert hat sich das Schreiben aus und über Liebe jedoch über das Bürgertum hinaus auch in andere soziale Schichten hinein verbreitet. Als Alternative zum ausführlichen Brief wurde hier auch die kolorierte Bildpostkarte populär, die statt Worten visuelle Sehnsuchtsmotive sprechen ließ. Im 20. Jahrhundert explodierten Liebeskorrespondenzen unterschiedlicher Art dann geradezu, nicht zuletzt durch die beiden Weltkriege, die Millionen Paare trennten, was den Brief – trotz Zensur – zur unentbehrlichen Gefühls- und Kommunikationsbrücke machte.
Nach einem dann zu konstatierenden Rückgang des schriftlichen Beziehungs- und Liebesdialogs durch die zunehmende Verbreitung des Telefons ist dieser mit den digitalen Medien erneut aufgeblüht – und zwar nicht nur in der Variante von allerkürzesten Textbotschaften im Mix mit Fotos, Videos und Emoticons. Kulturwissenschafter/innen beobachten vielmehr auch eine Rückkehr der langen ausführlichen Briefform als Mittel der Beziehungsgestaltung, medial adaptiert in umfangreichen, höchstpersönlichen Email-Korrespondenzen, die «Liebesdinge», Vertrauliches und Intimes in hoher Intensität austauschen.
Das folgende und letzte Briefbeispiel stammt allerdings aus der Zeit davor, nämlich aus dem Jahr 1980:
Wie würde sich eine Szene der Sehnsucht, wie sie der Schreiber hier eindrücklich und ausdrucksvoll brieflich festgehalten hat, heute abspielen, anfühlen und aufgelöst werden? Würde sie in Zeiten von Smartphone, WhatsApp, Facebook und eines damit möglichen Kommunizierens ohne Wartezeit rund um die Uhr überhaupt noch entstehen?