Mary – das war der Rufname der Diplomatentochter Marie Alexandrine Freiin von Vetsera. Die 17-Jährige schrieb ihrer Mutter Helene diesen Abschiedsbrief, bevor sie in der Nacht auf den 30. Januar 1889 in den Tod ging. Die Baroness starb an einem Schuss in die Schläfe; abgedrückt hatte Rudolf, Kronprinz von Österreich und Ungarn, der sich in derselben Nacht im kaiserlichen Jagdschloss von Mayerling ebenfalls tötete. Beide machten in mehreren Abschiedsbriefen klar, dass sie freiwillig aus dem Leben geschieden waren.
Die Briefe, die Mary an Mutter, Schwester und Bruder geschrieben hatte, waren aus Abschriften der Mutter im Wortlaut bereits bekannt. Bisher nahm man aber an, die Originale seien nach dem Tod der Mutter vernichtet worden. Doch nun sind die Schriftstücke bei einer Archivrevision in einem Safe der Wiener Privatbank Schoellerbank entdeckt worden. Der Ledereinband mit Dokumenten der Familie Vetsera befand sich seit 1926 in dem Schliessfach.
Der Doppelselbstmord des verheirateten Thronfolgers und seiner blutjungen Geliebten brachte den kaiserlichen Hof in Wien in arge Verlegenheit. Kaiser Franz Joseph I. und seine Gattin Elisabeth («Sisi») versuchten, den peinlichen Skandal um ihren einzigen Sohn zu vertuschen. Rudolf sei an einem Herzschlag gestorben, lautete die offizielle Version zunächst.
Als sich nicht mehr verheimlichen liess, dass Mary neben Rudolf in Mayerling gestorben war, wurde ihr die Schuld zugeschoben. Sie habe dem verzweifelten Kronprinzen die Idee des Doppelselbstmords in den Kopf gesetzt, hiess es. Die Wiener Hofärzte attestierten dem toten Erzherzog, den sie obduziert hatten, «geistige Verwirrung». Nur so war noch eine kirchliche Bestattung möglich.
Die Vernebelungstaktik war insofern erfolgreich, als Gerüchte die Wahrheit in den Hintergrund drängten. Noch die letzte österreichische Kaiserin, Zita, beharrte zeitlebens darauf, Rudolf und Mary seien «politischen Meuchelmördern zum Opfer gefallen».
In Wahrheit hatte der hochbegabte, aber depressive Thronfolger ein höchst promiskuitives Sexualleben geführt. Er liess sich mit zahlreichen, möglichst jungen Frauen ein – Schauspielerinnen, Prostituierte und Prinzessinnen teilten sein Bett. Auch nach seiner Hochzeit mit der jungen belgischen Prinzessin Stephanie im Mai 1881 hörte sein Frauenkonsum nicht auf. Die Ehe war unglücklich, über ihre Hochzeitsnacht notierte Stephanie: «Welche Qualen, welches Entsetzen – ich dachte, ich würde an meiner Desillusionierung sterben.»
Rudolf, seit 1883 Vater eines Mädchens, hegte liberale politische Ansichten, die von seinem konservativen Vater misstrauisch beäugt wurden. Je länger je mehr stellte ihn Franz Joseph I. politisch kalt. Genährt von der Frustration über seine politische Machtlosigkeit verstärkte sich Rudolfs depressive Stimmung. Der Thronfolger, der schon als Neunjähriger sein erstes Testament verfasst hatte und mittlerweile an Syphilis litt, sprach immer öfter von Selbstmord.
Allein wollte Rudolf aber nicht sterben. Zuerst trat er mit seinem morbiden Ansinnen an seine Geliebte Mizzi Kaspar heran. Kaspar, die ihren Lebensunterhalt als «Edelhure» bestritt, wollte allerdings nichts davon wissen. Sie starb erst 1907, fast auf den Tag genau 18 Jahre nach Rudolf.
Erfolg hatte Rudolf dann aber bei Mary Vetsera, die er im November 1888 kennenlernte. Die blutjunge Baroness «mit dem kecken Stumpfnäschen» verliebte sich sofort in den moribunden Kronprinzen – und liess sich von diesem zum gemeinsamen Suizid überreden.