In der europäischen Geschichte gab es drei grosse Revolutionen: Die Englische im 17. Jahrhundert, die Französische von 1789 und die Russische von 1917. Natürlich standen soziale Probleme bei allen drei Ereignissen am Anfang. Gemeinsam und auffällig war bei allen dreien, dass die Alphabetisierungsrate in den entsprechenden Ländern am Steigen war.
Die «soziale Frage» war in Europa während des 19. Jahrhunderts das zentrale Thema. Das Leid und die Not eines grossen Teils der Bevölkerung, die «Ungerechtigkeit» der herrschenden Ordnung war manifest. Es musste etwas geschehen. Russland war das rückständigste und zugleich repressivste Land in Europa damals. Die Inkompetenz und Ignoranz der führenden Schicht war mit Händen zu greifen.
«Sozialismus» und «Revolution» gehörten in mancherlei Hinsicht auch in Frankreich bereits zusammen. Marx und Engels brachten in die Diskussionen um die Sozialrevolution ein neues Moment. Der Sozialismus sei, sagte Marx, nicht nur etwas moralisch Wünschenswertes, das anstelle der Monarchie oder Autokratie gesetzt werden sollte, sondern die historisch zwingende Folge des Kapitalismus. Marx und Engels propagierten einen historischen Mechanismus: Der voll entwickelte Kapitalismus trägt «in sich» bereits den Sozialismus. Das spaltete die Sozialdemokratie: In einen revisionistischen Flügel, der auf die allmähliche Verbesserung der sozialen Probleme hoffte, und einen revolutionären, der die Verhältnisse mit Gewalt ändern wollte.
Auch die Befürworter der Revolution hatten ein Problem. Was kommt danach? Eine Frage, die auch Marx und Engels so nicht beantworten konnten. Marx ging aus von einer vollindustrialisierten Gesellschaft, in der eigentlich alle Wünsche befriedigt werden könnten. Dann gäbe es keinen Grund mehr für Klassenunterschiede und Diskriminierung. In Russland, das stand für Lenin fest, konnte eine Revolution, die an ein solches Ziel appellierte, nicht gelingen. Ein Bewusstsein davon war in der russischen Bevölkerung, vor allem auf dem Land, einfach nicht vorhanden. Russland war auch kaum industrialisiert, Arbeiter und Arbeiterbewegungen gab es erst im Ansatz. Lenins Lösung war eine Partei von Berufsrevolutionären (die Bolschewiki, die ausgesprochen keine politische Massenbewegung sein wollten), die mit Gewalt die Macht übernehmen und die Verhältnisse ändern müsste.
Gewissermassen. Die russische Revolution war für die Bolschewiki und Lenin eine Folge von Herausforderungen, die pragmatisch gemeistert werden mussten. Die grosse Linie gab es eigentlich nicht. Die war auch nicht bei Marx oder Engels zu lesen. Man musste die Leute auf dem Land berücksichtigen (Bodenreform), dann die Ernährungssituation sicherstellen (Ernte konfiszieren), die reguläre Armee destabilisieren (Frieden schliessen mit den Deutschen), eine eigene revolutionäre Armee aufstellen für den Bürgerkrieg (die Rote Armee) – es war ein dauerndes Hin und Her. Eigentlich hatten Lenin und die Bolschewiki nur ein übergeordnetes Ziel: die Macht in ihren Händen zu behalten.
Auf den ersten Blick schon. Andererseits ist es nicht recht vorstellbar, wie man Russland auf eine andere Art hätte umgestalten können. Die Kerenski-Regierung hatte zwar das Zaren-Regime beseitigt, tat aber sonst nicht viel. Lenin hatte gesehen, wie 1905 alles im Sand verlaufen war. Und er hatte daraus geschlossen, dass es vor allem eine entschlossene Führung brauchte. Und die lieferte er.
Den Terror gab es auch unter Lenin. Seine Sprache war mitunter ebenso gewalttätig. Dass man Leute, die politisch im Weg waren, erschiessen sollte, sagte auch er. Lenin war ein Berufsrevolutionär, ein Profi der Revolution. Er lebte für die Revolution, nicht für die Macht. Stalin war auf die Macht fixiert. Lenin konnte mit politischen Gegnern, mit Gegenargumenten, durchaus leben.
Stalin war rachsüchtig und wer gegen ihn war, büsste das früher oder später. Lenin warnte die Genossen vor Stalin. Andererseits ist klar, dass die Strukturen, die zum Stalinismus führten, bereits von Lenin stammten. Ob Lenin wirklich nichts – oder weniger und nur als Mittel zum Zwecke – an persönlicher Macht lag, wissen wir nicht.
Ohne Lenin hätte es Stalin nicht gegeben, ohne Zweifel. Politisch ist die Sache weniger klar. Noch unter der Führung Lenins und Trotzkis wurde die NEP, die neue ökonomische Politik, etabliert. Sie enthielt – wie später in Dengs China – marktwirtschaftliche Elemente. Und verbesserte die Versorgungssituation, weil die Erträge stiegen. Stalin würgte das ab. Der Stalinismus begann erst mit der sogenannten Kollektivierung der Landwirtschaft. Da wurde die traditionelle Dorfstruktur im bäuerlichen Russland völlig zerstört. Mit der Folge neuer Hungersnöte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das russische Vorbild zum Modell vieler sozialer Experimente. Einige folgten auf Revolutionen, andere auf Kolonialkriege. Man berief sich überall auf Marx – allerdings meist via Lenin. Lange hielt man das Sowjetmodell auch für wirtschaftlich erfolgreicher: der Sputnik-Schock 1957 zum Beispiel oder die Wachstumsraten, welche die westlichen übertrafen – wie heute die von China auch.
Ironischerweise war es Trotzki, der dieses Bonmot 1917 den Sozialrevolutionären und Menschewiki hinterherrief. Marx war als Philosoph ein Mann des 19. Jahrhunderts.
Er glaubte daran, dass die menschliche Entwicklung zu etwas Höherem und Besserem führe. Dass es möglich sein würde, in Frieden mit den Mitmenschen und der Natur zu leben. Einfach deshalb, weil die Industrie es erlauben würde, die Arbeitsbelastung der Menschen so weit zu reduzieren, dass sie ein glücklicheres Leben ohne Not und in Musse verbringen könnten, wenn die notwendige Arbeit einmal geleistet war. Deshalb war Lenin so interessiert daran, das «Gesetz des Kapitalismus» freizulegen. Damit die Menschen einsehen könnten, wie das System funktioniert.
Man darf nicht vergessen, dass alle «Marxisten» der ersten und zweiten Stunde Töchter und Söhne aus mehr oder weniger begüterten, aber sicher bürgerlichen Familien waren. Sie waren Intellektuelle, die wenigsten hatten eine Vorstellung vom Leben der Arbeiter aus erster Hand. Das gilt eigentlich für die meisten «marxistischen Revolutionen»: Fidel Castro war Jurist (Lenin war auch Anwalt), Che Guevara Mediziner, Maos Vater ein mehr oder weniger begüterter Landbesitzer.