In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar 1968 brach in Südvietnam die Hölle los. Der Vietcong und nordvietnamesische Truppen – insgesamt mehr als 80'000 Soldaten – griffen über 100 Städte und Stützpunkte gleichzeitig an. Den Angreifern gelang es, die alte Kaiserstadt Hue einzunehmen und Teile der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon zu erobern. Ein Stosstrupp des Vietcong griff sogar die amerikanische Botschaft in Saigon an, allerdings ohne sie besetzen zu können.
Die Tet-Offensive begann am Vorabend des vietnamesischen Neujahrsfests Tet Nguyen Dan – von dem sie den Namen erhielt – und kam für die US-Truppen und das südvietnamesische Militär völlig überraschend. In der Vergangenheit hatte über die Festtage jeweils eine informelle Waffenruhe geherrscht; zahlreiche südvietnamesische Soldaten befanden sich im Urlaub bei ihren Familien.
Dennoch blieb der militärische Erfolg der Offensive begrenzt. Die meisten Angriffe konnten entweder zurückgeschlagen oder die besetzten Stellungen in wenigen Tagen zurückerobert werden. Nur die Zitadelle von Hue vermochten nordvietnamesische und Vietcong-Einheiten mehr als drei Wochen lang zu halten – die Stadt wurde bei der Rückeroberung durch US-Marines schwer in Mitleidenschaft gezogen. «Mussten wir die Stadt zerstören, um sie zu retten?», bemerkte ein Offizier der Marines dazu.
Rein militärisch gesehen war die Tet-Offensive sogar ein Desaster. Der Vietcong und die nordvietnamesischen Truppen erlitten massive Verluste. Der Vietcong allein soll 50'000 bis 100'000 Kämpfer verloren haben – mehr als die Hälfte seines Bestandes. Die Guerilla-Organisation konnte danach vier Jahre lang keine grösseren Angriffe mehr durchführen. Zudem hatte die Offensive ihr eigentliches Ziel verfehlt, nämlich eine Massenerhebung der südvietnamesischen Bevölkerung gegen das Regime in Saigon auszulösen.
All dem zum Trotz war die Tet-Offensive ein entscheidender Erfolg des Vietcong und der Nordvietnamesen – auf politischer und psychologischer Ebene. Sie war, wie oft festgestellt wird, der Anfang vom Ende des amerikanischen Engagements in Vietnam. Fünf Jahre nach der Tet-Offensive zogen die USA ihre letzten Soldaten aus Südvietnam zurück; 1975 eroberten nordvietnamesische Truppen Saigon.
Was der Offensive auf dem Schlachtfeld in Südvietnam misslang, gelang ihr an der Heimatfront in den USA. Zu lange hatten Militärs und Politiker dort behauptet, der Vietcong büsse laufend an Moral und Stärke ein. Vor diesem Hintergrund waren die Bilder der umkämpften US-Botschaft in Saigon für die amerikanischen Fernsehzuschauer ein Schock. Dazu kam noch das berühmte Pressefoto der Exekution eines Vietcong-Kämpfers auf offener Strasse in Saigon, das weltweit Empörung auslöste.
Auch das erst später bekannt gewordene Massaker von My Lai, bei dem US-Soldaten über 500 Dorfbewohner getötet hatten, trug zum Stimmungsumschwung in den USA bei. Die Gräuel, die auf das Konto der anderen Seite gingen – in Hue brachten Nordvietnamesen und Vietcong etwa 5000 angebliche Kollaborateure um und verscharrten sie in Massengräbern –, blieben dagegen weitgehend unbeachtet.
(dhr)