Stickoxide schaden der Gesundheit – darum gibt es Grenzwerte für den Ausstoss. Eingehalten werden die von vielen Dieselfahrzeugen allerdings nicht. Was das konkret bedeutet, haben Forscher nun errechnet.
Rund 38'000 Menschen sind einer Hochrechnung zufolge wegen nicht eingehaltener Abgasgrenzwerte bei Dieselfahrzeugen allein im Jahr 2015 vorzeitig gestorben. 11'400 dieser Todesfälle entfallen auf die EU, wie ein wissenschaftliches Team um Susan Anenberg von der Organisation Environmental Health Analytics (LLC) in Washington berichtet. Die Gesamtzahl vorzeitiger Todesfälle durch Stickoxide aus Dieselabgasen lag demnach für die weltgrössten Automärkte bei 107'600.
Die Wissenschaftler errechneten, dass Dieselfahrzeuge jährlich rund 4,6 Millionen Tonnen Stickoxide mehr ausstossen als sie nach geltenden Abgasgrenzwerten dürften. Im Jahr 2015 habe der Gesamtausstoss in der Folge bei 13,1 Millionen Tonnen gelegen, schreiben die Forscher im Fachmagazin «Nature».
Stickoxide gehören zu den Vorläuferstoffen bodennahen Ozons: Bei starker Sonneneinstrahlung lösen sie chemische Reaktionen aus, in deren Verlauf Ozon entsteht. Zudem tragen Stickoxide zur Feinstaubbelastung bei.
Seit Beginn des Volkswagen-Abgasskandals vor zwei Jahren wurde nach und nach bekannt, dass viele Dieselfahrzeuge auf der Strasse mehr Schadstoffe ausstossen als auf dem Abgas-Prüfstand. Durch Systeme, die Abgase direkt im Strassenverkehr messen, konnte in einer Reihe von Untersuchungen festgestellt werden, wie gross der Mehrausstoss ist.
Auch die Forschungsanstalt Empa in Dübendorf ZH berichtete kürzlich von Testergebnissen mit aktuellen Dieselmodellen mit Abgasstandard Euro 6b, deren Abgasausstoss sie während der Fahrt gemessen hatten. Die ab Oktober geltenden strengeren Zulassungsverfahren würden diese Wagen demnach nicht bestehen, dürfen aber dennoch bis 2019 unverändert verkauft werden. Erst die nächste Modellreihe müsse den strengeren Euro 6c Abgasstandard erfüllen, schrieb die Empa in ihrem Magazin «Empa Quarterly».
Anenberg und Kollegen nutzten Ergebnisse ähnlicher Untersuchungen und etablierte Modelle zur Ausbreitung von Schadstoffen, um den über den Grenzwerten liegenden Ausstoss und die Folgen für die elf grössten Märkte für Dieselfahrzeuge abzuschätzen. Diese Märkte sind Australien, Brasilien, China, die 28 EU-Staaten, Indien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Südkorea und die USA. In diesen Ländern und Regionen werden rund 80 Prozent aller Dieselfahrzeuge verkauft.
Die Forscher konzentrierten sich auf Stickoxide wie Stickstoffoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2). Insgesamt entfallen demnach auf fünf Märkte – Brasilien, China, die EU, Indien und die USA – 90 Prozent des Zusatzausstosses. Bei ihren Modellberechnungen unterschieden die Wissenschaftler nach Autos, Lastwagen und Bussen.
«Der Schwerlastverkehr – grössere Lkw und Busse – trug bei Weitem am meisten zu den überschüssigen Stickoxiden bei, nämlich zu 76 Prozent», sagt Josh Miller vom International Council on Clean Transportation (ICCT) in Washington, Mitautor der Studie.
Lediglich in der EU ist die Situation demnach anders, da Diesel-Pkw dort erheblich weiter verbreitet sind: Dieselautos verursachen in den EU-Ländern etwa 60 Prozent des Mehrausstosses an Stickoxiden pro Jahr.
«Europa trägt unter den grössten Automärkten die grösste Gesundheitslast durch zusätzliche Stickoxid-Emmissionen», sagte ICCT-Experte und Mitautor Ray Minjares. Von den 28'500 vorzeitigen Todesfällen durch Stickoxide aus Dieselabgasen in der EU entfallen demnach rund 11'400 auf den Zusatzausstoss infolge nicht eingehaltener Abgasgrenzwerte.
Als «überfällig» bezeichnet Benjamin Stephan von Greenpeace die Studie: «Sie stellt Daten zur Verfügung, die wir bisher in der Diskussion vermisst haben». Die Studie sei solide durchgeführt, allerdings fehlten genauere Angaben zu Autoklassen und –marken.
Er erhofft sich durch die Studie einen anderen Schwerpunkt in der Aufarbeitung des Dieselabgas-Skandals. «Bisher stand oft der Betrug an den Autobesitzern im Mittelpunkt. Jetzt wird klar, welche Grössenordnung der Skandal hat und welche Auswirkungen dies auf die Umwelt und die Gesundheit der Menschen hat.»
Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags zum Abgasskandal, der in Kürze veröffentlicht wird, spricht allerdings eine andere Sprache. Darin heisst es: «Epidemiologisch ist ein Zusammenhang zwischen Todesfällen und bestimmten NO2-Expositionen im Sinne einer adäquaten Kausalität nicht erwiesen».
Dem widersprechen eine Reihe wissenschaftlicher Experten. So sagt Nino Künzli vom Schweizer Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) in Basel: «Die Kombinationswirkungen von NO2 mit anderen immer präsenten Schadstoffen sind auch toxikologisch kaum erforscht, weshalb es auch nicht angemessen ist, NO2 per se als unbedenklich zu bezeichnen». (sda/dpa)