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Was ist wahre Leidenschaft?

Was ist wahre Leidenschaft? 10 Versuche, dieses unzähmbare Ungetüm zu bändigen 

Der älteste Kampf des Menschen ist wohl der, den er in sich selbst austrägt: Der zwischen seinen Leidenschaften und seiner Vernunft. Philosophen und Dichter haben quer durch alle Jahrhunderte hindurch versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Vergeblich.
11.05.2016, 16:56
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Die Geburt der Leidenschaft 

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Vielleicht ist die Geschichte von Odysseus und den Sirenen eine der Urszenen des menschlichen Ringens mit der Leidenschaft. 

Odysseus lässt sich von seinen Gefährten an den Mast des Schiffes binden, er verstopft ihnen die Ohren mit honigsüssem Wachs, damit sie nichts hören. In Odysseus Lauscher aber dringt der unwiderstehliche Lockgesang, doch fleht er seine Männer an, ihn loszubinden, sind sie taub dafür. 

So überlistet er seine Begierde. Er wendet seinen Verstand an, um ihr nicht zu erliegen. Denn gänzlich loswerden kann sie der Mensch nicht. Sie ist immer da, um ihn zu überwältigen. Allein die Vernunft vermag sie zumindest in ihre Schranken zu weisen. 

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Die Leidenschaft als Feind der Vernunft 

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Je zivilisierter die Menschen werden, umso mehr verfallen sie dem Glauben, einzig die Ratio sei der Schlüssel zur Erkenntnis, mit ihr allein gelange man zum guten Leben.

Die Logik stürzt die alten Götter der Leidenschaft und man beginnt über den «Barbaren» zu lachen, den zurückgebliebenen Naturmenschen, der gleich einem Kind die Welt mit Geistern beseelt, weil er sie mit dem Verstand nicht zu fassen vermag. 

Ein Plädoyer für die Leidenschaft 

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Allerdings finden sich viele, die für die andere Seite des Menschen plädieren. Für das reine Gefühl und die mutige Tat, für die Seele und die Bereitschaft, für etwas Grosses zu leiden. Das sind zum einen die Künstler: Dichter, Musiker und Maler, die neue Welten erschaffen. Zum anderen die Erfinder, Entdecker und Eroberer, die die bestehende Welt verändern. Denn nie hat wohl einer etwas Schönes oder Wichtiges zustande gebracht, ohne dass das Feuer der Leidenschaft in ihm gelodert hätte.

Was passiert, wenn die Leidenschaft eines Entdeckers erlischt

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Ohne Leidenschaft sind all die grossen Taten der Geschichte völlig undenkbar. Ein Alexander der Grosse, ein Caesar, ein Napoleon, ein Mandela wären in ihren Stuben gehockt. Und die Welt wäre geblieben, wie sie sie vorgefunden hatten. 

Die Verlierer aber werden von der Geschichte gnadenlos überrollt. So wie der britische Polarforscher Robert Falcon Scott. Ihn hat man vergessen, weil er das erste Wettrennen an den Südpol gegen seinen norwegischen Rivalen Roald Amundsen verloren hat. Als er am 18. Januar 1911, nach unzähligen Entbehrungen, nur noch wenige Meter vor seinem Ziel stand, sah er inmitten dieses erbarmungslosen Schneefelds die norwegische Fahne wehen:

«Das Ungeheure, das Unfassbare in der Menschheit ist geschehen: der Pol der Erde, seit Jahrtausenden unbeseelt, seit Jahrtausenden, und vielleicht seit allem Anbeginn ungeschaut vom irdischen Blick, ist in einem Molekül Zeit, ist innerhalb von fünfzehn Tagen zweimal entdeckt worden. Und sie sind die Zweiten – um einen einzigen Monat von Millionen Monaten zu spät –, die Zweiten in einer Menschheit, für die der Erste alles ist und der Zweite nichts.»
Stefan Zweig, «Sternstunden der Menschheit», 1927

Und alles Lebendige weicht aus diesem Mann, alle Hoffnung, die ihn überhaupt an diesen gottvergessenen Ort getrieben hatte, stirbt in diesem Moment. Auf seiner Rückkehr schreibt er seine letzten Briefe, während draussen der Orkan an die dünnen Zeltwände anrennt. Es sind die Briefe eines Sterbenden, der sich noch einmal an seine Liebsten richtet, an die englische Nation, ja an die ganze Menschheit:

«‹Ich weiss nicht, ob ich ein grosser Entdecker gewesen bin, aber unser Ende wird ein Zeugnis sein, dass der Geist der Tapferkeit und die Kraft zum Erdulden aus unserer Rasse noch nicht entschwunden ist.› [...] Als letztes zittern die schon erfrierenden Finger den Wunsch hin: ‹Schickt dies Tagebuch meiner Frau!› Aber dann streicht seine Hand in grausamer Gewissheit das Wort ‹meiner Frau› aus und schreibt darüber das furchtbare ‹meiner Witwe›.»
Stefan Zweig, «Sternstunden der Menschheit», 1927

Die tödliche Leidenschaft eines Liebenden

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Der Polarforscher Scott stirbt, weil ihn seine Leidenschaft verlässt. Shakespeares Othello wählt den Tod, weil er von Eifersucht zerrfressen, sich selbst nicht mehr erkennt:

«Hier steht, der einst Othello war: hier bin ich.»
Shakespeare, «Othello», 1603

In wilder Wut erwürgt er seine Frau Desdemona, «die holdste Unschuld, die je den Blick erhob». Durch böse Intrigen glauben gemacht, sie habe ihn betrogen. Und als er aufgeklärt wird, dass er allein durch Lügen an diesen irrtümlichen Glauben geriet, stürzt er sich in sein eigenes Schwert:

«Ihr müsst melden von einem, der nicht klug, doch zu sehr liebte; Nicht leicht argwöhnte, doch, einmal erregt, Unendlich raste.» 
Shakespeare, «Othello», 1603

Und während Othello seine sterbenden Lippen auf die toten seiner Braut legt, verabschiedet er sich von der Welt mit den Worten:

«Ich küsste dich, Eh' ich dir Tod gab – nun sei dies der Schluss: Mich selber tötend sterb' ich so im Kuss.»
Shakespeare, «Othello», 1603

Vom richtigen Verhältnis zwischen Vernunft und Leidenschaft

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Reinste, ungebremste Leidenschaft kann den Menschen zerstören. Deshalb ist er stets versucht, diese unbändige Kraft in sich zu zähmen und das Leiden zu verringern, um zu einem glücklichen und guten Leben zu gelangen.

Dies ist auch der Kern der Philosophie Epikurs. Seelenruhe erreiche man nur, wenn man Furcht, Schmerz und Begierde überwindet.

«Weder grösster Reichtum noch Ehre oder Ansehen bei der Menge, noch irgend etwas anderes, was unbegrenzte Begierde erstreben mag, löst die Unruhe der Seele und bringt ihr wirkliche Freude.»
Epikur, 341-271 v. Chr.

Seinen schlechten Ruf als exzessfeiernden Hedonisten und Genussprediger verdankt Epikur den christlichen Autoren des 3. und 4. Jahrhunderts (Tertullian, Laktanz), die als erste seine Lehre der Überwindung der Gottesfurcht verdammten, entzöge es doch jeglicher Religion den Boden. 

Vom richtigen Verhältnis zwischen Leidenschaft und Vernunft lesen wir auch beim schreibwütigsten Philosophen der Aufklärung; bei Kant, der die Sache moralisch anpackt. Sein berühmter kategorischer Imperativ lautet:

«Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»
Immanuel Kant, «Kritik der praktischen Vernunft», 1788

Oder biblisch ausgedrückt: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.» (AT, Tobit 4,16) Unmöglich also, allen Begierden hinterherzueifern. Das würde ein zivilisiertes Zusammenleben der Menschen verunmöglichen.

Als Kant nun seine Morallehre verfasste, wohnte er direkt neben dem Gefängnis von Königsberg. Des Morgens stellten sich die Gefangenen im Gefängnishof zum gemeinsamen Singen auf. Kant hat sich nicht mit Wachs die Ohren verstopft, sondern sofort einen Brief an die Gefängnisverwaltung aufgesetzt. Mit der Bitte, man möge die Insassen doch bitte drinnen singen lassen, es störe ihn gar schrecklich bei der Arbeit. 

Er war also taub für die «Sprache der Leidenschaft», wie Richard Wagner die Musik bezeichnete. Deshalb verwundert es auch nicht weiter, dass er Sätze verfasste wie diesen:

«Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüts, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschliesst.»
Immanuel Kant, «Anthropologie in pragmatischer Hinsicht», 1798

Leidenschaft ist doof

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Zwischendurch müssen unbedingt ein paar Witze her, damit das hier erträglich wird ...

«Alles, was wir gerne tun, macht dick, ist krebserregend oder unmoralisch.»
Mark Twain, irgendwann zwischen 1835-1910
«Der Mensch hat neben dem Trieb der Fortpflanzung und dem, zu essen und zu trinken, zwei Leidenschaften: Krach zu machen und nicht zuzuhören.»
Kurt Tucholsky, «Die Weltbühne», 1931
«Mit dir verlier' ich jedes Zeitgefühl, sprach Hansklaus zu Trudi. Aber die war ja längst tot.»
Lukas Linder, «Der Helm», Schweizer Dramatiker, 2016 

Von der einsamen Leidenschaft

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Neben den Begierden, die schöne Menschen in uns hervorrufen, ist da noch die Leidenschaft zu einer Sache. Die rein geistige Hingabe, die Wissenschaftler ihrem Gegenstand entgegenbringen. 

Einstein sagte: 

«Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.»
Einstein in einem Brief an Carl Seelig, 1952 

Die Neugierde ist der Anfang allen Strebens nach Erkenntnis. Wie viele grosse Männer sind ihr verfallen und bekamen dafür den Schierlingsbecher, endeten auf dem Scheiterhaufen oder unter dem Schafott, weil die Welt für ihr Wissen noch nicht bereit war.  

Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau war der Ansicht, dass solch geartete Leidenschaften Abgeschiedenheit verlangen:

«Alle grossen Leidenschaften entstehen in der Einsamkeit.»
Jean-Jacques Rousseau, «Julie oder Die neue Heloise», 1761 

Und Schopenhauer, der König der Pessimisten, war sowieso der Meinung, dass man ganz allein ist auf der Welt, mit seinem kümmerlichen Leben und mit seinem ebenso kümmerlichen Tod, weswegen das einzig für ihn wirklich Erstrebenswerte die Selbstgenügsamkeit ist: 

«Mit grösstem Rechte sagt also Aristoteles: ‹Das Glück gehört denen, die sich selber genügen.› Denn alle äusseren Quellen des Glückes und Genusses sind, ihrer Natur nach, höchst unsicher, misslich, vergänglich und dem Zufall unterworfen, dürften daher, selbst unter den günstigsten Umständen, leicht stocken; ja, dieses ist unvermeidlich, sofern sie doch nicht stets zur Hand sein können. Im Alter nun versiegen sie fast alle notwendig. Denn da verlässt uns Liebe, Scherz, Reiselust, Pferdelust und Tauglichkeit für die Gesellschaft: Sogar die Freunde und Verwandten entführt uns der Tod. Da kommt es denn, mehr als je, darauf an, was einer an sich selber habe. Denn dieses wird am längsten Stich halten. Aber auch in jedem Alter ist und bleibt es die echte und ausdauernde Quelle des Glücks. Ist doch in der Welt nicht viel zu holen: Not und Schmerz erfüllen sie, und auf die, welche diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln die Langeweile. Zudem hat in der Regel die Schlechtigkeit die grosse Herrschaft darin und die Torheit das grosse Wort. Das Schicksal ist grausam und die Menschen sind erbärmlich.»
Arthur Schopenhauer, «Parerga und Paralipomena», 1851

Was die Massen leidenschaftlich lieben

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Während der eine also allein im stillen Kämmerchen sitzt und seiner Leidenschaft für Physik, Mathematik oder Philosophie nachgeht, versammeln sich die anderen in rauen Mengen im Fussball-Stadion. Das ist vergleichbar mit dem Menschenauflauf in der römischen Arena, wenn es hiess: Gladiatorenkampf! Oder: Wagenrennen! Nur gestorben wird nicht mehr so viel.

Aber all die roten Köpfe, die Schiribeleidigungen, die Torschreie und Tränen. Wenn Leidenschaft eine das «Gemüt völlig ergreifende Emotion» ist, dann ist das, was in einem Stadion passiert, geballte Massenleidenschaft. Und zwar quer durch alle Bildungs- und Altersschichten hindurch.

«Ich kann mich nicht erinnern, dass zwei Menschen aus völlig unterschiedlichen Kreisen Arm in Arm aus einem Opernhaus, einem Museum oder dem Bundestag gekommen sind.»
Ottmar Hitzfeld, Extrainer der Schweizer Nati

Fazit

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26 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Firefly
11.05.2016 17:24registriert April 2016
Leidenschaft ist, was der Roboter von dem man heute sagt, er werde mich in zehn Jahren ersetzen, nie haben wird.
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