Wissen
Interview

«Frauen wollen sich begehrt fühlen – eine Lustpille allein bringt nichts»

Einmal pro Tag eingenommen soll die «Addyi» den Frauen mehr Lust bereiten.
Einmal pro Tag eingenommen soll die «Addyi» den Frauen mehr Lust bereiten.Bild: Allen G. Breed/AP/KEYSTONE
Interview

«Frauen wollen sich begehrt fühlen – eine Lustpille allein bringt nichts»

Nach langem Hin und Her ist in den USA das erste Medikament gegen weibliche Lustlosigkeit bewilligt worden. Haben die Schweizerinnen ebenfalls ein Bedürfnis danach? Helke Bruchhaus Steinert ist Sexualtherapeutin – sie weiss, was Frauen wollen.
20.08.2015, 16:0009.11.2015, 14:50
Mehr «Wissen»

Frau Bruchhaus Steinert, wie stehen Sie ganz grundsätzlich zu Addyi, der «Lustpille» für die Frau?
Helke Bruchhaus Steinert: Aus medizinischer und therapeutischer Sicht bleibe ich im Moment noch eher skeptisch, ob dieses Produkt tatsächlich etwas bewirkt.​

Die Lustpille für den Mann ist seit vielen Jahren erfolgreich, warum sollte es hier anders sein?
Weil die beiden Produkte ganz unterschiedlich funktionieren. Viagra für den Mann setzt direkt beim Penis an, indem es dort die Durchblutung fördert. Das Produkt für die Frau löst jedoch keine Erregung direkt am Geschlechtsorgan aus. Es versucht viel mehr, Prozesse im Gehirn zu steuern, um die sexuelle Lust zu fördern.

Helke Bruchhaus Steinert
führt eine Praxis für Psychotherapie und Psychiatrie. Ihre Schwerpunkte sind Beziehungsprobleme, Paartherapie und Sexualtherapie.
Helke Bruchhaus Steinert führt eine Praxis für Psychotherapie und Psychiatrie. Ihre Schwerpunkte sind Beziehungsprobleme, Paartherapie und Sexualtherapie.Bild: zvg

Und warum sollte das Ihrer Meinung nach nicht funktionieren?
Die Prozesse, die dort im Hirn beeinflusst werden, sollen dafür sorgen, dass beispielsweise Dopamin und Noradrenalin auf einem hohen Niveau sind. Diese Wirkstoffe sind für Antrieb und Aktivität zuständig. Die Idee dahinter lautet also: Wenn wir diesen Hormonen viel Platz geben, dann haben die Frauen mehr Lust und wollen mehr. In Wahrheit ist das aber nur ein ganz kleiner Teil-Aspekt bei der Frage nach der Lust.

Von dem Produkt erwartet man sich also zu viel?
Ganz genau. Es mag sein, dass mich diese Pille rein physiologisch auf das richtige Niveau bringt. Aber deswegen ist die Situation, die mich sexuell anspricht, noch lange nicht gegeben. Ich bin dann vielleicht grundsätzlich in einer passenden Stimmung, aber trotzdem bleibe ich sexuell nicht ansprechbar – weil mir vieles andere auch noch fehlt.

Welches sind denn die anderen Aspekte, die nötig sind, damit Lust entsteht?
In meinem klinischen Alltag höre ich immer wieder, dass Frauen Beachtung finden und sich begehrt fühlen wollen. Das aber nicht nur unmittelbar im sexuellen Kontakt – also nicht erst beim Vorspiel – sondern bereits davor. Die Sache mit dem Kerzenlicht und der Candlelight-Stimmung ist eben doch kein blödes Klischee. Frauen wollen merken, dass sie erotisch angesprochen werden – und das braucht seine Zeit. Während viele Männer eher sagen: «Ich kann auch mal schneller, ich brauche dafür nicht das ganze ‹Drumrum›.»

Was hältst du von der Lustpille für die Frau?

Gibt es in der Schweiz einen Markt für diese Pille, haben die Schweizerinnen ein Bedürfnis danach?
Die Frauen, die zu mir kommen, haben glaube ich weniger den Wunsch des «Ich will jetzt unbedingt können». Die würden eher sagen: «Dann bin ich wieder diejenige, die können muss. Das macht die Sache für meinen Mann ja noch einfacher.» In den meisten Fällen formulieren die Frauen ihren Wunsch eher folgendermassen: «Ich möchte von meinem Mann mehr Aufmerksamkeit bekommen. Und dann wäre ich auch durchaus sexuell ansprechbar.»

No Components found for watson.skyscraper.

Sie haben also keine Angst, dass die Lustpille für die Frau Ihnen die Patientinnen wegnimmt?
Nein, auf keinen Fall. Ich führe aber vor allem Paartherapien durch. Das schränkt meine Sicht darauf natürlich etwas ein. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Frauen gibt, die ganz grundsätzlich an einem Lustmangel leiden – die sagen würden: «Wenn es nach mir ginge, bräuchte ich überhaupt keinen Sex – weder mit meinem Mann, noch sonst irgendwie.» Solche Frauen wenden sich mit ihrem Problem vielleicht eher an ihren Gynäkologen. Und da möchte ich nicht ausschliessen, dass es Frauen gibt, denen eine solche Pille helfen könnte.

«Mit diesem Mittel wird das Problem der Lust sozusagen ‹wegtherapiert›.»

In gewisser Weise macht dieses neue Produkt die Lustlosigkeit aber auch zu einer Krankheit.
Absolut. Die Lust der Frau wird pathologisiert und man sieht sie nicht mehr als wichtigen Hinweis für ein sonstiges Bedürfnis – in der Beziehung, in der gemeinsamen Zeit, im spielerischen Umgang miteinander und und und. Darum bin ich zusätzlich skeptisch. Mit diesem Mittel wird das Problem der Lust sozusagen «wegtherapiert». Das kann der Erotik und einer Verhaltensänderung, die oftmals nötig wäre, den Wind aus den Segeln nehmen. 

Kritiker führen auch das Problem der Nebenwirkungen an.
Da bin ich auch sehr kritisch. Mit Blutdruckabfall, Schwindel und Ohnmachtsanfällen sind diese ja doch erheblich.

Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, bis das Produkt in die Schweiz kommt?
Diese Frage kann ich nur schwer beantworten. Es hängt ja auch davon ab, ob die hiesige Pharmabranche sich damit einen Gewinn ausrechnen würde. In den USA hat man vielleicht auch eine andere Einstellung zu Medikamenten. In meiner subjektiven Einschätzung sind Schweizer diesbezüglich zurückhaltender. Die sagen eher: «Ich versuche es erst einmal anders und nehme Medikamente erst dann, wenn es unbedingt sein muss.»

Angenommen, das Produkt kommt in die Schweiz: Würden Sie es Ihren Patientinnen empfehlen?
Weil ich grundsätzlich neugierig bin, würde ich es nicht von Vornherein ausschliessen. Ich würde es vielleicht einer Frau verschreiben, mit der ich in engem Kontakt stehe, mit der ich auch direkt die Folgen besprechen kann – und die vor allem rein körperlich absolut gesund ist. So ist es ja immer mit neuen Produkten: Sie können einen neuen Erkenntnisgewinn bringen, aber man muss sie erst einmal mit Vorsicht geniessen.

Das könnte sich auch interessieren: Die Top 10 Porno-Suchbegriffe von Frauen

1 / 12
Top 10 Porno-Suchbegriffe von Frauen
Nr. 1: "Lesbian" – "Lesbisch" ist mit Abstand der häufigste Suchbegriff, den Frauen auf dem Porno-Portal Pornhub eingeben. Bei den Männern liegt er auf Platz 9.
quelle: shutterstock
Auf Facebook teilenAuf X teilen
No Components found for watson.appWerbebox.
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
16 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
rychro
20.08.2015 16:49registriert Juni 2014
Es heisst häufig der Mann muss mir mehr Aufmerksamkeit schenken. Was sicher in den Fällen richtig ist. Trotzdem wünschen sich sicher auch viele Männer, dass Ihre Frau auch mal mit dem Wunsch nach Sex zu ihnen kommen. Oder wie seht ihr das?
Vielleicht wünschen sich das Frauen genau das, häufiger Lust zu verspühren. Warum nicht?
293
Melden
Zum Kommentar
avatar
Roman Rey
20.08.2015 16:25registriert Januar 2014
Ich bin da auch sehr skeptisch. Die menschliche Lust ist doch viel zu komplex, als dass man sie mit ein paar Hormon-Boostern einfach wieder in Schwung bringen kann.

Der Ansatz passt sehr gut zum American Way of Gesundheit, wo man sich tendenziell lieber eine Pille reinschmeisst, um sich nicht mit den Ursachen eines Problems auseinandersetzen zu müssen.
267
Melden
Zum Kommentar
avatar
Homelander
20.08.2015 17:56registriert Oktober 2014
Ich sags nochmal, nehmt einfach (die richtigen) Drogen. Die haben wahrscheinlich sogar noch weniger Nebenwirkungen und machen Spass.
225
Melden
Zum Kommentar
16
Seltenes Spektakel über Nordamerika: Am Montag kommt es zur totalen Sonnenfinsternis

Am 8. April gibt es wieder eine totale Sonnenfinsternis zu bestaunen. Die schlechte Nachricht für uns: Sie wird in der Schweiz nicht zu sehen sein. Die gute: Wer das Glück hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, kriegt ein seltenes Spektakel zu sehen. Und: Immerhin dürften uns hierzulande wieder eindrucksvolle Bilder der totalen Sonnenfinsternis erreichen.

Zur Story