Es gab mal eine Zeit, als Aktienhandel vermögenden Herren aus dem Zigarrensaal vorbehalten war. Danach rutschte die Mittelschicht nach. Diese investierte bankberaten und wohlkalkuliert entweder in einen Fonds oder in ein möglichst diversifiziertes Portfolio. Damit wurde dann eine Jahresrendite von ein paar Prozent erzielt – abzüglich einer schwindelerregenden Courtage.
Diese Zeiten sind vorbei.
Aktienhandel ist zum Volkssport geworden. Entsprechende Apps erlauben der Gymischülerin, dem Praktikanten und der Gymrat, innerhalb weniger Minuten nach der Installation erste Transaktionen zu tätigen. Hebelprodukte inklusive.
Statt im Zigarrensaal trifft sich die neue Klientel im Internet – im Subreddit r/wallstreetbets zum Beispiel. 2,7 Millionen Reddit-User sind in diesem Forum angemeldet – die Lurker (nicht angemeldete und deshalb unsichtbare Nutzer) nicht mit eingerechnet. Gewinne werden hemmungslos gefeiert, fast mehr noch aber Verluste.
User berichten, wie sie sich für die Chance aufs schnelle Geld tief verschulden, Hypotheken aufnehmen, Stipendien verzocken – alles riskieren. Zur Belohnung gibt's ein Meme. r/wallstreetbets ist das Mekka der desillusionierten Glücksritter. Man kennt die Risiken – und nimmt sie trotzdem.
Ein Fatalismus genährt von immer unverständlicheren Finanzvorgängen: Die amerikanische Notenbank «druckte» im letzten Jahr weit über 3 Billionen Dollar. Damit sollte verhindert werden, dass die Aktienmärkte einbrechen. Das wurde geschafft. Es hatte aber auch zur Folge, dass Amerikas 614 Milliardäre knapp eine Billion reicher wurden, während die Arbeitslosenquoten in den USA auf Rekordwerte stiegen.
Die Tonalität auf r/wallstreetbets pendelt zwischen Sarkasmus und Zynismus. Glaubt man Remarque, hat es so in den Schützengräben des ersten Weltkriegs getönt. Auch die Wallstreetbetter führen Krieg. Der Feind sind die etablierten Händler an der Wall Street, die Profis, die Besserwisser. Und im Moment versohlen die verhöhnten Amateure zuhause die institutionellen Investoren nach allen Regeln der Kunst.
Es geht um die Aktie von GameStop (GME).
Der Videospiele-Kette geht es schlecht. So wie man Filme nicht mehr in der Videothek ausleiht, kauft man Games heute nicht mehr über die Ladentheke. Man downloadet sie. Während einer Pandemie sowieso. Die Playstation 5 zum Beispiel gibt es auch ohne Laufwerk. Ausserdem bereiten Online-Game-Abos den herkömmlichen Verkäufern grosse Bauchschmerzen.
Wenig überraschend musste Gamestop letzten April bekanntgeben, mindestens 300 Filialen zu schliessen. Der Aktienkurs fiel. Am 3. April kostete die Wertschrift noch 2.80 Dollar pro Stück.
Dann stieg Investor Ryan Cohen ein. Das alleine schlug noch keine grossen Wellen – aber sein gesalzener Brief an den Verwaltungsrat im November. Cohen warf CEO George Sherman vor, die Internetisierung zu verschlafen. Er verlangte eine dramatische Neuausrichtung. Als Cohen und zwei seiner Mitarbeiter zu Beratern berufen wurden, sahen Hobbyinvestoren in Cohen den Heilsbringer – und stiegen wieder ein.
Die Aktie reagierte. Plötzlich kostete GME wieder 30 Dollar. Auf Wallstreetbets feierten einige Trader riesige Gewinner. User «DeepFuckingValue» soll mit Hebelprodukten und einem sechsstelligen Investment fast 14 Millionen gemacht haben.
Die Profis an der Wall Street hingegen sahen es anders. Gamestop sei dem Tode geweiht. Und was macht die Wall Street mit kränkelnden Firmen? Sie tötet sie endgültig. Das Finanzinstrument dazu heisst «Short». Beim Short garantiert der Spekulant, eine Aktie zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen gewissen Preis zu verkaufen – ohne sie dabei zu besitzen.
Ziel ist es, die Aktie bis zum abgemachten Datum günstiger einzukaufen. Der Preisunterschied macht den Gewinn. Shorter sind verpönt – weil sie mit dem Niedergang einer Firma Geld verdienen. In regelmässigen Abständen flammen Diskussionen auf, ob Shorts nicht besser verboten werden sollen.
Wie viele Shortpositionen es gibt, ist bekannt. Steigt ihre Anzahl, nährt dies das Misstrauen von Anlegern. Die Prophezeiung des fallenden Kurses erfüllt sich selbst. Oft. Aber eben nicht immer.
Als bekannt wurde, dass der New Yorker Hedge Fund Melvin Capital Management eine riesige GME-Short-Position öffnete, reagierte die Fanbase bei Wallstreetbets wütend – aber entschlossen. Wallstreetbetter und Sympathisanten kauften noch mehr GameStop-Aktien. Und weil der Aktienpreis nicht fiel, kam es zu einem sogenannten Short-Squeeze: Die Shorter befürchteten, die Aktie nun doch nicht zum tiefen Preis erstehen zu können. Um den Schaden in Grenzen zu halten, kauften sie ein – was den Preis immer weiter in die Höhe trieb. Eine Dynamik, die schwer zu bremsen ist.
Sie führte dazu, dass GME heute für 140, 250, 312 (Stand 16:46), 370 Dollar (Stand 17:03) gehandelt wurde. Melvin Capital Management ist in tiefroten Zahlen, hat seine Short-Position mittlerweile nach eigenen Angaben geschlossen und benötigte laut «Financial Times» ein 2,75 Milliarden Rettungspaket. Die Internet-Punks von Wallstreetbets haben die Profis nach Strich und Faden vorgeführt.
Wie es mit GameStop tatsächlich weiter geht, steht in den Sternen. Der Trend bleibt derselbe. Games werden nicht mehr über die Ladentheke gekauft. Gelingt es dem Konzern nicht, sich an den Markt anzupassen, heisst es weiter lichterlöschen. Und auch diese Aktienrally wird nicht ewig dauern.
Die Finanzwelt hingegen muss akzeptieren, dass sich die Kräfteverhältnisse von den Zigarrensälen wegverschieben. Die belächelten und als dumme Beute taxierten Hobbytrader haben zurückgeschlagen. Stellvertretend dazu ein Post aus Wallstreetbets:
Und sie kriegen's vermutlich auch noch...
Verzockt ist verzockt. Dem Kleinanleger schnürt auch keiner ein Rettungspaket, wenn er sich verzockt.