Englisch hat unglaublich viele Wörter – viel mehr als Deutsch oder Französisch. Ihre Gesamtzahl übersteigt mittlerweile eine Million. Und verflucht vielen von ihnen sieht man nicht an, wie sie auszusprechen sind.
Wie unglaublich viele es sind, zeigt ein Gedicht, das der niederländische Anglizist Gerard Nolst Trenité 1920 veröffentlichte. The Chaos, das in seiner ursprünglichen Version 146 Zeilen aufwies, zirkuliert heute in verschiedenen Varianten im Internet – oft versehen mit dem freilich unbelegten Hinweis, 90 Prozent der englischen «Native Speakers» seien nicht in der Lage, es fehlerlos auszusprechen.
Grund genug für uns, Sportredaktor Sandro Zappella auf das Gedicht anzusetzen. Zappella ist der richtige Mann für diesen Task, denn er hasst Anglizismen. Strafe muss sein!
Für die, die es genau wissen wollen: Hier gibt es eine Version von «The Chaos» mit dem Text in normaler und phonetischer Schreibung. Und hier folgt eine nahezu perfekt gesprochene Wiedergabe des Gedichts:
Nicht nur Leute, die Shakespeares Sprache erst in der Schule gelernt haben, bekunden ihre liebe Mühe mit den Feinheiten der englischen Aussprache. Auch «Native Speakers» dürften zuweilen an den Rand der Verzweiflung geraten – zum Beispiel, wenn sie es mit der nicht so seltenen Buchstabenkombination ough zu tun haben. Hier hat man die Qual der Wahl zwischen nicht weniger als zehn verschiedenen Möglichkeiten. Bei ou sind es immerhin noch 9 Varianten.
Umgekehrt – bei der Frage, wie man einen bestimmten Laut schriftlich wiedergibt – ist die Sache nicht einfacher: So kann ein langes i wie in be, bee, beach oder people mit über 20 verschiedenen Buchstabenkombinationen geschrieben werden. Solche Probleme gibt es im Französischen zwar auch (dort kann z. B. der o-Laut mit o, ô, au/aux oder eau/eaux geschrieben werden), aber dort beschränken sie sich eben weitgehend auf eine Richtung: Man weiss allenfalls nicht, wie man ein Wort wie tableau schreiben soll, aber wenn man es liest, ist klar, wie es ausgesprochen wird (vorausgesetzt, man kennt die Regeln).
Die ausserordentlich grosse Diskrepanz zwischen Schreibung und Aussprache im Englischen (Graphem-Phonem-Diskrepanz) hat historische Gründe. Das heutige Schriftbild gibt im Grossen und Ganzen den Lautstand des Mittelenglischen vor der frühneuenglischen Vokalverschiebung wieder. Vor dieser tiefgreifenden Veränderung wurde ein Wort wie time noch mit langem i gesprochen, nicht wie heute mit einem Diphtong.
Ausserdem hat Englisch im Laufe seiner Entwicklung zahllose Lehnwörter aus verschiedenen Sprachen aufgenommen und diese in der Schreibung eher selten angepasst. In der Regel wurden nur jene Wörter an die englische Schreibweise angeglichen, die aus einer Sprache mit einem anderen Alphabet stammten.
Das Resultat ist ein phonetisches Verwirrspiel, das nur Leute sicher entwirren können, die mit der englischen Sprachgeschichte vertraut sind.