Wer sich dieser Tage im Internet zum Coronavirus informiert, stösst unweigerlich auf wilde Verschwörungstheorien: Das Coronavirus sei in Tat und Wahrheit nicht natürlich, sondern eine chinesische Biowaffe, welche China gezielt auf den Westen losgelassen habe; das Coronavirus sei eine US-amerikanische Biowaffe, welche die Amerikaner gezielt gegen China losgelassen hätten; die Pandemie sei nur von der Pharmaindustrie inszeniert, um damit Geld zu machen; die Pandemie gebe es gar nicht und das Ganze sei lediglich ein Komplott einer geheimen Weltregierung, um die Bevölkerung zu brechen und handzahm zu machen, damit wir besser kontrollierbar werden.
Es gehört zur Natur von Verschwörungstheorien, dass sie grosse Behauptungen machen, die Evidenz zur Untermauerung dieser Behauptungen aber schuldig bleiben. Aber warum glauben wir dann an sie? Wir sind schliesslich rationale Menschen und wollen für die Dinge, die wir glauben, gute Gründe haben. Bei Verschwörungstheorien passiert aber das Gegenteil: Wir glauben an sie, gerade weil es keine guten Gründe gibt, an sie zu glauben. Wie kommt das?
Die Welt ist gross und komplex und unüberschaubar. Zu verstehen, wie die Welt funktioniert und was der sprichwörtliche Sinn hinter den Dingen ist, fällt uns entsprechend ganz grundsätzlich schwer. Diesen Umstand empfinden wir als sehr unangenehm, denn als vernunftbegabte Wesen haben wir die intuitive Triebfeder, die kausalen Zusammenhänge in der Welt verstehen zu wollen. Wir begnügen uns nicht damit, B zu beobachten, sondern wir wollen darüber hinaus auch verstehen, wie und warum B zustande kommt. Wir wollen unseren Drang nach Logik befriedigen: Wenn A, dann B.
Wenn nun ein einschneidendes und seltenes Ereignis mit weitreichenden Folgen stattfindet – ein Terroranschlag, ein Börsencrash, eine Mondlandung oder eben eine Pandemie –, wird unser Durst nach kausalen Erklärungen noch grösser. Wir wollen nämlich verstehen, wie etwas, was es vielleicht noch nie gegeben hatte, passieren konnte. Das Problem in solchen Situationen ist, dass unser Bauchgefühl eher schlecht als recht mit Wahrscheinlichkeiten umgeht.
Wenn also das Ereignis, um das es geht, eine Art «Black Swan» ist, also ein sehr unwahrscheinliches Ereignis mit grossem Impact, fällt es uns schwer, das Ganze als Zufall zu akzeptieren – die Erklärung, dass halt auch sehr unwahrscheinliche Dinge passieren können, weil sie eben zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich sind, stillt unseren Durst nach Kausalität nicht. «Es ist einfach passiert» ist für uns keine brauchbare Erklärung. Wir wollen eine Erklärung, die Hand und Fuss hat. Wir wollen eine Erklärung, die uns unsere Unsicherheit nimmt. Wir wollen: Wenn A, dann B.
In solchen von Ungewissheit geprägten Situationen können Verschwörungstheorien unsere Wissenslücke füllen und uns eine stimmige Erklärung liefern. Anzunehmen, dass das Ereignis, um das es geht, nicht bloss ein zufälliger statistischer Ausreisser, sondern in Tat und Wahrheit die Folge einer Verschwörung ist, mag rational betrachtet dubios sein, aber intuitiv gesehen empfinden wir die Verschwörung als die einleuchtendere Geschichte. Angenommen, Max Müller hat drei Wochen hintereinander sechs Richtige im Lotto. Das ist statistisch gesehen nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich – da scheint es doch recht plausibel, anzunehmen, dass Max auf irgendeine Art beschissen hat. Wenn A, dann B.
Die psychologische Funktion von Verschwörungstheorien erschöpft sich nicht in einzelnen spezifischen Erklärungen für intuitiv schwer verdaubare Ereignisse und Zustände. Verschwörungstheorien helfen uns nämlich in einem übergeordneten Sinn, die Welt zu einem geordneten, überblickbaren und verständlichen Ort zu machen. Wir glauben an Verschwörungstheorien, weil wir uns damit mehr Kontrolle und Sicherheit in einer unkontrollierbaren und ungewissen Welt erhoffen. Das ist besonders dann attraktiv, wenn wir uns in unserem eigenen Lebensalltag machtlos fühlen und den Eindruck haben, dass politische, wirtschaftliche und kulturelle Eliten nicht zu unseren Gunsten schalten und walten.
In einer Welt, in der wir als kleines Individuum nur wenig Einfluss haben, können uns Verschwörungstheorien darum auch zu einer Art sozialer Identität verhelfen. Zum Beispiel sind Menschen mit eher tiefem sozioökonomischen Status im Vergleich zu wohlhabenderen Menschen in der Tat machtlos und in vielen gesellschaftlichen Belangen unfairerweise benachteiligt. Verschwörungstheorien helfen, dieser Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit eine einfache Erklärung zu geben, und zwar indem eine Gruppe der Opfer und eine Gruppe der vermeintlichen Verschwörer identifiziert wird. Den einen geht es schlecht, weil die anderen es so wollen. Wenn A, dann B.
Verschwörungstheorien haben damit letztlich etwas Beruhigendes: Wenn hinter den schlimmen Dingen in der Welt böse Menschen stecken, die uns aktiv schaden wollen, empfinden wir das als weniger schlimm als die Alternative – dass die Welt grundsätzlich chaotisch und ungewiss und oftmals sehr brutal und unfair ist. Gegen die bösen Menschen, die sich gegen uns verschwören, können wir nämlich vielleicht etwas machen; dem Chaos der Welt hingegen sind wir hilflos ausgeliefert.
Verschwörungstheorien sind eine grosse Herausforderung. Wir glauben an sie, weil unser Denkapparat auch dann klare und einfache Erklärungen sucht, wenn es solche eigentlich nicht gibt. Zudem verbreiten sich Verschwörungstheorien heute dank den Möglichkeiten des Internets in Windeseile, sodass wir mit ihnen heute relativ einfach in Kontakt kommen können. Können wir überhaupt etwas machen, um die Welle an Verschwörungstheorien und verschwörungstheoretischem Denken aufzuhalten?
Wahrscheinlich lohnt es sich, Verschwörungstheorien nicht einfach totzuschweigen, sondern sie aktiv anzusprechen; egal, ob in einem Gespräch mit jemandem oder öffentlichkeitswirksamer über Artikel und Videos und Podcasts. Dabei ist aber wichtig, dass wir ein paar Regeln befolgen, damit das Ganze zielführend bleibt. Wir müssen empathisch sein und die Leute, die an Verschwörungstheorien glauben, nicht blossstellen oder verspotten. Um das Eis zu brechen und keine Abwehrhaltungen zu verursachen, hilft es zudem auch, an das kritische Denken und das Hinterfragen von Überzeugungen zu appellieren. Das sind nämlich Eigenschaften und Werte, denen sich auch eingefleischte Verschwörungs-Fans verschreiben, sodass man hier eine Art gemeinsame Basis schaffen kann.
Bei der inhaltlichen Diskussion geht es dann einerseits um die Klärung von Sachfragen rund um strittige Behauptungen und andererseits um die Klärung möglicher logischer Unstimmigkeiten und kognitiver Verzerrungen. Es gibt natürlich keine Garantie, dass sich Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungstheorien auf solche Argumente einlassen (Verschwörungstheorien sind eine hochemotionale, irrationale Angelegenheit), aber wenn die Argumente auf eine respektvolle, empathische Art präsentiert werden, steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie ankommen.
Und warum sollten wir überhaupt etwas gegen Verschwörungstheorien tun? Es gibt im Mindesten zwei wichtige Gründe. Erstens kann uns Rationalität nicht egal sein. Es gibt nur eine Realität und wir müssen als Gesellschaft wollen, dass jede und jeder von uns einen so guten Zugang wie möglich zu ihr hat. Zweitens hat das, was Menschen glauben, einen direkten Einfluss auf das, was Menschen im Alltag tun. Wenn genug viele Menschen genug gefährliche Verschwörungstheorien glauben, kann das grossen Schaden anrichten.
Viele Menschen impfen sich und ihre Kinder zum Beispiel nicht mehr, weil sie an Verschwörungstheorien über Impfungen glauben. Viele Menschen bilden schädliche Stereotype von und Vorurteile gegenüber anderen Gruppen, weil sie an Verschwörungstheorien glauben. Viele Menschen werden zynischer und verzichten auf politische Mitwirkung, weil sie an Verschwörungstheorien glauben. Viele Menschen verlieren grundsätzlich das Vertrauen in Wissenschaft und Forschung, weil sie an Verschwörungstheorien glauben. Viele Menschen radikalisieren sich und rutschen in extremistische, gewalttätige Ideologien, weil sie an Verschwörungstheorien glauben.
Verschwörungstheorien sind ein Problem, das uns auch in Zukunft noch viel und womöglich noch viel mehr als heute beschäftigen wird. Das berührt nicht zuletzt unser intimstes Selbstverständnis als eine Gemeinschaft aufgeklärter, rationaler Menschen. Dass sich mehr und mehr Menschen von der Realität abwenden, dürfen wir nicht tatenlos akzeptieren. Diesem Risiko müssen wir entschlossen mit den Werkzeugen der Empathie und der Rationalität begegnen.
Habe in meinem Umfeld viele VT-Anhänger. Unter anderem zieht meine frühere Branche (Komplementärmedizin) solche Leute auch einfach an. Mit Empathie & Rationalität erreicht man weniger, als Sie denken, Herr Kovac.
Einzige Mittel sind:
- Bildung
- Transparenz
- Reduktion von Partikularinteressensteuerung
- Übernahme von Verantwortung durch jegliche (!) Medien
Eine Diskussion mit Ihnen, Herr Kovac, wäre sicher interessant.