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Zahl der Toten steigt auf über 230 – Proteste nach Unglück

Angehörige und Minenarbeiter trauern um die Verunglückten.
Angehörige und Minenarbeiter trauern um die Verunglückten.Bild: Reuters
Grubenunglück in der Türkei

Zahl der Toten steigt auf über 230 – Proteste nach Unglück

14.05.2014, 07:0414.05.2014, 17:37
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Die Zahl der Toten bei dem verheerenden Grubenunglück in der Türkei ist auf mindestens 232 angestiegen. Das sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu bei einem Besuch am Ort der Katastrophe. Rund 100 Kumpel werden weiterhin vermisst.

Nun hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Die Staatstrauer gelte rückwirkend ab Dienstag, erklärte Erdogans Büro heute. 

Bei Protesten nach dem Unglück setzte die Polizei in Ankara am Mittwoch Tränengas und Wasserwerfer gegen hunderte Demonstranten ein. Etwa 800 Protestierende warfen Steine auf die Beamten und riefen regierungsfeindliche Parolen, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Türkische Gewerkschaften beklagen seit Jahren, dass die Regierung die Betreiber privater Minen zu wenig kontrolliert

Während einige Kumpel gerettet werden können, kommt für andere jede Hilfe zu spät.Video: YouTube

Im Kohlebergwerk war nach der Explosion eines Transformators ein Feuer ausgebrochen, das am Mittwoch weiter wütete. Zum Zeitpunkt des Unglücks befanden sich laut Yildiz 787 Menschen unter Tage. Die meisten Opfer starben an Kohlenmonoxidvergiftungen. Kohlenmonoxid erschwert auch die Rettungsarbeiten erheblich. «Ich muss sagen, dass unsere Hoffnungen für die Rettungsversuche schwinden», sagte Energieminister Taner Yildiz am Mittwochmorgen im westtürkischen Soma.

Am Vormittag war der Brand in der Zeche laut Yildiz immer noch nicht unter Kontrolle. Medienberichten zufolge hatte ein Defekt an einem Transformator zunächst die Explosion und dann den Brand verursacht, der nach Angaben von Yildiz in 150 Metern Tiefe ausbrach.

Kumpel rechnet mit bis zu 400 Toten

Der Mineur Sami Kilic, der neun Jahre in der Zeche arbeitete und bei den Rettungsarbeiten hilft, sagte dem Sender CNN-Türk, bei einer Explosion unter Tage funktioniere die Stromversorgung nicht mehr. Ventilatoren könnten nicht mehr arbeiten, der Luftstrom werde unterbrochen. Er rechne mit bis zu 400 Toten

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte eine geplante Auslandsreise nach Albanien ab. Er wollte am Mittwoch an den Ort des Unglücks in Soma in der Provinz Manisa reisen. Mehrere Oppositionsparteien schickten Delegationen nach Soma. Verzweifelte Angehörige der Opfer warteten vor einem Spital auf Informationen.  

Zwei Luftblasen

Die meisten Bergleute steckten in 2000 Metern Tiefe etwa vier Kilometer vom Eingang der Grube entfernt fest. Dichter Rauch behinderte die Rettungsarbeiten. In die nicht vom Feuer erfassten Teile des Bergwerks wurde frische Luft gepumpt. Aus Sicherheitskreisen vor Ort verlautete, es hätten sich zwei Luftblasen gebildet. Zu der einen hätten die Bergungskräfte Zugang. In der anderen seien die Kumpel aber von jeder Hilfe abgeschnitten. 

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Bild: Reuters

Die einen hatten Glück

Die körnigen Schwarzweiss-Bilder einer Überwachungskamera zeigen ein leeres Förderband unter Tage. Plötzlich blitzen die Stirnlampen von Männern auf, die einen verletzten Arbeiter aus der Kohlegrube im westtürkischen Soma führen: Der Arbeiter hat Glück gehabt, er gehört zu den Überlebenden des schwersten Grubenunglücks in der Türkei seit Jahrzehnten.

Szenen aus dem Innern der Mine mit Rettungsteams

Wettlauf gegen die Zeit

In Soma regieren Schock und Trauer – und bei einigen macht sich schon Wut auf die Behörden breit. Die Grube in Soma ist einer der grössten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6500 Kumpel arbeiten hier. Beim Schichtwechsel am Dienstagnachmittag befinden sich mehrere hundert von ihnen in der Grube. 

Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Spital von Soma laufen unterdessen die Verwandten der Eingeschlossenen zusammen und versuchen verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren.

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Bild: Reuters

Experte spricht vom «süssen Tod»

«Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon,» sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters, die vor der Grube auf einem Stapel Holz steht und versucht, über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg einen Blick auf die Glücklichen zu erhaschen, die erschöpft und mit russgeschwärzten Gesichtern aus dem Bergwerk geführt werden. Isbiler wartet weiter. «Bisher habe ich noch nichts gehört.»

Die Behörden schicken vier Rettungsteams in die Grube, die versuchen, den Brand unter Tage zu löschen und die eingeschlossenen Bergarbeiter mit Frischluft zu versorgen. Das ganze Land fiebert mit und hofft auf gute Nachrichten. Im Fernsehen sorgt ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als «süssen Tod» bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.

«Die Zeit läuft gegen uns»

«Die Zeit läuft gegen uns», sagt Minister Taner, der in der Nacht am Grubeneingang steht und sieht, wie die verletzten Überlebenden ins Freie gebracht werden. Tod durch Erstickung ist die grösste Gefahr, sagt der Bergbau-Professor Vedat Didari von der Bülent-Ecevit-Universität im türkischen Kohlerevier in Zonguldak am Schwarzen Meer. «Wenn die Frischluftventilatoren an der Decke ausfallen, können die Arbeiter innerhalb einer Stunde sterben.»

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Bild: EPA/ANADOLU AGENCY

«Die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld.»

Noch während die Rettungsarbeiten im vollen Gange sind, beginnt die Debatte über die Gründe für das Unglück. Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall und betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel gross. «Es gibt hier keine Sicherheit», sagt der Arbeiter Oktay Berrin in Soma. «Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld.»

Kilicdaroglus Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament von Ankara mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.

Für den linken Gewerkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein «Massaker», wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden ausser Acht gelassen: «Es geht nur um den Gewinn.»

In der Türkei kommt es immer wieder zu tödlichen Grubenunfällen. Mehrfach gab es in den vergangenen Jahren Verstösse gegen Sicherheitsbestimmungen oder es wurden veraltete Arbeitsgeräte eingesetzt. Das folgenschwerste Unglück der vergangenen Jahrzehnte ereignete sich 1992 in einem Bergwerk in der Provinz Zonguldak. Dort starben bei einer Gasexplosion 263 Menschen. 

(Tobias von Rickenbach/sda/afp)

Mehr zum Grubenunglück finden Sie hier

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