O, diese wunderbaren Schweizer Tunnels! Alles gibt es in ihnen, alles! Licht, Luft, Leben, Liebe! Grosszügige, bequeme und doppelt redundante Notfallwege! Gut ausgeschilderte Schutzräume! Wahrscheinlich gibt es in einigen Tunnels sogar hervorragend geführte Restaurants, die nur auf hungrige Unfallopfer warten.
Und vor allen Dingen: Netz! WLAN! 4G! Durchgehend! Internet, Download, «Bild online», geht alles! In HD, Dolby und AVI, noch dreitausend Meter unter oder über der Erde! Noch nie habe ich es erlebt, dass es auf Schweizer Bahnlinien mehr als unbedeutende Unterbrechungen der Mobilverbindungen gegeben hätte, mit Ausnahme einiger rätselhafter schwarzer Löcher auf wenig genutzten und unmassgeblichen Nebenlinien wie Bern-Zürich. Die SBB ist wirklich und wahrhaftig eine Bahn des 21. Jahrhunderts.
Dagegen herrscht in Deutschland ausserhalb der grossen Bahnhöfe sofort Funkstille. Die Kasseler Berge, die Brandenburger Einöde, das Niemandsland zwischen Hamburg und Berlin – sollte hier mal ein Zug liegenbleiben, müsste man schon Rauchzeichen geben, grosse Stapel der Bahnzeitung DB Mobil verbrennen, und hätte dennoch tagelang auf Rettung zu warten. In fünfzehn Jahren ist es der Deutschen Bahn nicht gelungen, zivilisatorische Mindeststandards auf ihren Strecken einzuführen! Statt dessen lässt man immer noch den Scientology-Ableger «Telekom» unfassbar überteuerte WLAN-Knoten in einigen wenigen Zügen installieren, wo die Minute 1000 Euro kostet und für jeden Klick eine schriftliche Genehmigung der NSA eingeholt werden muss. In den meisten Regionalbahnen gibt es nicht einmal Steckdosen!
Ja, man kann sagen, dass die Deutsche Bahn im Wesentlichen immer noch ein Betrieb des 19. Jahrhunderts ist, was man schon an den brutalen Arbeitskämpfen sieht. Während sich die Schweizer in der Pflicht sehen, noch in die tiefsten Stollen und auf die höchsten Berge die Fackel der Zivilisation zu tragen – nämlich: Bahnschienen! Mobilfunkmasten! Migrolinos! – ist in Deutschland die Drohung mit dem Zivilisationsbruch Standard in allen Auseinandersetzungen. Nicht nur lassen die streikenden Lokführer die Ferienträume der Restbevölkerung platzen, auch die Bahn selbst bedroht ihre Gäste, durch sträflichen WLAN-Entzug, und zwar pausenlos: Nur hier, im Zug, seid ihr vor den Gefahren der Wildnis draussen sicher – ohne uns könntet ihr hier nicht mal telefonieren!
Wie diskret dagegen die Arbeitskämpfe in der Schweiz! Sie finden allem Anschein nach in der Hauptsache nach Feierabend statt, wenn es keinen stört, in jedem Fall hat noch keiner meiner Schweizer Bekannten jemals etwas davon mitbekommen. «Streiken? Ist das bei uns nicht verboten?» schreibt mir ein Kollege. Jedenfalls ist es für keine der beteiligten Parteien ein Grund, den allgemeinen Lebensstandard zu senken. Dass die Bahn regelmässig fährt, ist so unendlich viel wichtiger als kleinliche Belange wie Lohnzahlungen oder Pensionsregelungen! Und warum sollte man auch streiken? Es ist doch alles da, was man zum Leben braucht: nämlich eben Bahnschienen, Mobilfunkmasten, Migrolinos! Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, gewissermassen. Bei der Assimilation Schweizer Tugenden durch die deutschen Kolonisten hat diese grundsätzliche Einstellung zum Arbeitskampf jedenfalls oberste Priorität. WLAN statt Pensionen!