Wenn Zeitungen über den Kriegsverlauf in der Ukraine berichteten, habe ich in den letzten Monaten meist weitergeblättert. Mein Interesse für einen Krieg nimmt schnell ab, wenn er über 2000 Kilometer entfernt stattfindet, in einem Land, das ich nicht kenne. Doch plötzlich bin ich da. Und die Ukraine, fast 15-mal so gross wie die Schweiz, nimmt Gestalt an.
Auf den Strassen fahren teilweise noch Autos aus der Sowjetzeit, sie schlängeln sich zwischen den zahllosen Schlaglöchern hindurch. In jedem noch so kleinen Bergdorf glänzt eine goldene Kirchkuppel prächtig in der Sonne, was die anderen Häuser umso ärmlicher aussehen lässt.
Im Restaurant muss ich gackern, um ein Poulet-Gericht zu bekommen, weil ich aus den kyrillischen Buchstaben auf der Speisekarte nicht schlau werde und niemand Englisch spricht.
Und was ist mit dem Krieg?
Als Tourist in der Westukraine spüre ich davon kaum etwas: Die starke Erhöhung der Lebensmittelpreise trifft mich nicht, die Armeewerbespots im Fernsehen verstehe ich nicht und das Putin-Klopapier auf dem Markt – na ja, ich find's lustig.
Greifbar wird der Krieg für mich erst, als ich bei Jaroslaw ins Auto steige und nach seinem Beruf frage. «Ich arbeite bei der Armee», sagt der rund 50-Jährige in holprigem Englisch. Ich werde hellwach. Sitze ich hier wirklich bei einem Angehörigen der ukrainischen Armee im Auto? Jener Armee, die seit Monaten im Fokus der Weltöffentlichkeit steht?
Ich bin skeptisch. Doch Jaroslaw wirkt glaubwürdig und erzählt aus einem Guss: Er sei Colonel, also Oberst, bei der Raketenartillerie. Heute habe er Urlaub und besuche seine Frau und seine zwei Töchter. Deshalb sei er zivil unterwegs.
Ich stelle die Frage, die mir auf der Zunge brennt: «Warst du auch im Krieg in der Ostukraine?» Jaroslaw nickt. Zwischen Dezember und März sei er mit seiner Einheit drei Monate dort gewesen. «Unser Auftrag war es, so viele Feinde wie möglich zu töten.»
Er sagt das völlig ruhig und emotionslos, als sei es die normalste Sache der Welt. Eine detailliertere Beschreibung seines Auftrags kann er aufgrund mangelnder Englischkenntnisse nicht geben. Aber eigentlich reicht seine Aussage – worum sollte es in einem Krieg sonst gehen?
Auf einmal verlässt Jaroslaw die Autobahn und biegt auf eine Landstrasse ab. Er will mir eine alte Festung zeigen. Mit grossen Schritten, die Arme schwingend wie bei einer Militärparade, führt mich der 1,90-Meter-Hüne durch den Wald zu einer verborgenen Ruine.
Es ist die Festung Tarakanovskiy, die der russische Zar Alexander III 1890 errichten liess. «Die russischen Besatzer haben sie gebaut», sagt Jaroslaw mit bedeutsamer Stimme. Ganz so, als ob er mir klarmachen will: «Siehst du, deshalb kämpfen wir in der Ostukraine!»
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