Die türkische Kleinstadt Ürgüp ist, verglichen mit anderen Zielen der Touristenregion Kappadokien, eine graue Maus. Ich würde Ürgüp wohl kaum eines Wortes würdigen – hätte mich mein Fahrer Levent nicht in seine Stammkneipe mitgenommen.
Hier treffe ich auf eine Welt, wie es sie in der Schweiz immer weniger gibt, seit die meisten ausserhalb ihres Wohnorts arbeiten und die Fabrikhalle gegen den Bürostuhl eingetauscht haben.
Doch der Stammtisch in der Schweiz lässt sich mit demjenigen in der Türkei ohnehin nicht vergleichen: Während der Schweizer Stammtisch mit der Arbeiterklasse assoziiert wird, und ein eher negatives Image hat (der «Stammtisch-Plauderi» lässt grüssen), sitzen am türkischen Stammtisch alle Gesellschaftsschichten, und alle sind gleich.
Denn bei Backgammon, Jassen oder Schach sind Job und Status egal. Ob Anwalt, Banker, Hotelangestellter, Polizist oder Verkäufer – der Verlierer bezahlt am Schluss das Bier. Habe ich Bier gesagt? Ich meine natürlich Tee, Alkohol trinkt hier niemand. Dafür zündet sich ununterbrochen irgendeiner eine Zigarette an.
Und ja, ich verwende bewusst nur die männliche Form. Denn unter den rund dreissig Gästen befindet sich keine einzige Frau. Das ist befremdend, ich erkenne jedoch zumindest einen Vorteil: Als ich auf die Toilette muss, laufe ich für einmal nicht Gefahr, die falsche Tür zu wählen – es gibt kein Frauenklo.
Aber im Ernst: Was die Frauen machen, weiss ich nicht. Ich nehme an, sie passen zu Hause auf die Kinder auf ...
Levent hat weder Frau noch Kinder, er lebt alleine. Der 34-Jährige ist Informatiklehrer an der Oberstufe und so kommt es, dass wir mit fünf seiner Berufskollegen in einer Runde sitzen. Einer unterrichtet Chemie und Physik, ein anderer Mathe, der nächste Sport. Ich muss schmunzeln bei der Vorstellung, dass meine Sekundarlehrer namens Meier und Moser nach dem Unterricht jeweils in der Dorfbeiz mit einer Zigarette im Mund einen Jass geklopft hätten – köstlich!
Ein Englischlehrer ist leider nicht dabei, deshalb muss ich via Levent kommunizieren. Er ist der einzige, der einigermassen Englisch spricht. Von ihrer Sozialkompetenz überzeugen mich Levents Lehrerkollegen aber auch ohne Worte: Jeder begrüsst mich mit einem warmen Händedruck und ab und zu (während ich als Zuschauer versuche, ihre etwas abgedrehten Rummy-Regeln zu verstehen) lächelt mich der eine oder andere aufmunternd an.
Nach einer Weile fragen sie mich, ob ich es mal versuchen will. Ich nehme die Herausforderung an, scheitere aber kläglich: In der ersten Runde falle ich auf einen Bluff des Chemielehrers rein, in der zweiten Runde bezichtige ich den gleichen Chemielehrer eines Bluffs, der diesmal aber keiner war. Damit das Spiel nicht nach wenigen Runden zu Ende ist, übernimmt wieder Levent.
Nach drei Stunden als Rummy-Zuschauer, fünf oder sechs Tassen Tee und viel zu vielen Zigaretten, beginne ich mich zu langweilen. Ich bin deshalb froh, als der Gastwirt kurz nach Mitternacht beginnt, die Stühle zusammenzustellen. Auf dem Heimweg frage ich Levent, ob sie das jeden Abend machen. «Ja, fast jeden», antwortet er schmunzelnd. In seinem Gesicht in kein Ausdruck des Bedauerns zu erkennen, er ist zufrieden damit.