All das wurde leider überschattet von einem Verkehrsunfall, der sich auf dem Weg zum Tempel direkt vor unseren Augen ereignete:
Ein Traktor mit viel zu viel Holz auf seinem Anhänger weicht bei einer belebten Kreuzung weit auf die linke Fahrbahn aus, um ein parkiertes Auto zu umfahren. Mehrere der tennisballdicken Baumstämme, die weit über die Ladefläche hinausragen, erfassen dabei mit voller Wucht einen alten Mann, der am Strassenrand mit dem Beladen seines kleinen Lieferwagens beschäftigt ist.
Der alte Mann hat den Blick von der Strasse abgewandt, die Holzprügel treffen ihn deshalb völlig unvorbereitet. Der gebrechliche Körper wird durch die Luft geschleudert und bleibt regungslos auf der Strasse liegen. Sofort bildet sich eine Menschentraube um das Unfallopfer. Auch unser Fahrer Lu Liang und seine Frau steigen aus. Er ruft sofort einen Krankenwagen.
Lea und ich beobachten das Geschehen zuerst aus dem Auto, wir wollen nicht als Gaffer im Weg stehen. Als Lea aber sieht, wie unvorsichtig die Einheimischen den alten Mann an den Strassenrand lupfen, hält sie es nicht mehr aus. Die Physiotherapeutin zwängt sich zwischen den Leuten hindurch, die hilflos auf den starren Körper hinabblicken, nimmt ihren Schal ab, um den Kopf des Unfallopfers zu stützen, und ruft mir zu: «Du hast doch eine Alu-Rettungsdecke in deinem Rucksack, oder?»
Ich hole die Decke, die ich für kalte Nächte im Zelt bei mir habe, und meinen Schlafsack aus dem Kofferraum. Meine aufblasbare kleine Campingmatratze hält Lea für keine gute Idee: «Wir sollten auf die Ambulanz warten und ihn möglichst wenig bewegen.» Dann streicht sie dem Fremden sanft über die Wangen und redet leise auf ihn ein.
Er ist nicht bewusstlos, sein Gesicht bewegt sich von Zeit zu Zeit, doch er schliesst immer wieder die Augen. «Sie müssen auf Chinesisch mit ihm reden, damit er wach bleibt», sagt Lea zu mir. Ich nehme Lu Liangs Handy und spreche die Anweisung auf seine Übersetzer-App. Dann zeige ich die chinesischen Zeichen der alten Frau, die den Mann zu kennen scheint, und sich schon die ganze Zeit sorgenvoll über ihn beugt. Sie beginnt mit ihm zu sprechen.
Nach rund 20 Minuten die Erleichterung: Der Krankenwagen kommt. Der Sanitäter kniet runter und redet auf das Unfallopfer ein. Der alte Mann bewegt unter dem Schlafsack und der Notfalldecke seinen rechten Arm und deutet wortlos auf seinen Rücken. Der Sanitäter nimmt es zur Kenntnis und lässt die Bahre herbeibringen.
Dann greifen drei, vier beliebige Leute sorglos nach dem gebrechlichen Körper und hieven ihn auf die Trage. Der alte Mann stöhnt mit schmerzverzerrtem Gesicht. Der Sanitäter schaut nur zu, er greift nicht ein. Hauptsache, es geht möglichst schnell, scheint seine Devise zu sein. Ich kann fast nicht glauben, was ich da sehe.
Ich bin alles andere als ein Erste-Hilfe-Experte. Aber sogar ich weiss, dass man es so mit Sicherheit nicht macht. Lea beobachtet die Szene ebenfalls fassungslos. Als dann auch noch ein Mann vom Krankenwagen zu ihr zurückgerannt kommt, um ihr den Schal zurückzugeben, sagt sie wütend: «Nein, nein, ich will ihn nicht. Stabilisiert seinen Kopf damit!»
Doch es ist zu spät. Die Krankenwagentüren schliessen sich und die Menschenmenge löst sich auf. Auch wir steigen wohl oder übel wieder in unser Auto und fahren weiter. Keiner fragt uns nach dem Unfallhergang, die Polizei taucht gar nicht erst auf. Und der Unfallverursacher, der Fahrer des überladenen Traktors, ist längst nirgends mehr zu sehen.
Das Klischee bestätigt sich leider bei diesem Unglück: In China zählt das Individuum offenbar wenig.