Ich sitze in einem Café in der Flaniermeile von Odessa. In der Ferienhochburg am Schwarzen Meer wird grossmehrheitlich Russisch gesprochen, obwohl die Stadt seit 1991 zur Ukraine gehört. Das heisst aber nicht, dass die Einwohner Odessas im Ukraine-Konflikt allesamt auf der Seite Russlands stehen. Von der Muttersprache lässt sich nicht automatisch auf die politische Einstellung schliessen, wie meine Begegnungen der letzten Tage zeigen.
Da ist zum Beispiel Victoria, eine aufgeweckte Wirtschaftsstudentin aus Kiew. Ihre Muttersprache ist Ukrainisch. Trotzdem würde sie den Krieg in der Ostukraine am liebsten per sofort beenden und das Territorium den Russen überlassen: «Wieso sollen wir um ein Gebiet kämpfen, dessen Bevölkerung mehrheitlich nicht zur Ukraine gehören will?», fragt sie mich mit ihren grossen blauen Augen.
Ihr Freund Victor, der am Steuer sitzt, ist derselben Meinung. Dennoch musste er vor drei Monaten in der Ostukraine einen kurzen Militäreinsatz leisten. Das junge Paar ist zwar überzeugt davon, dass die Separationsbewegung in der Ostukraine erst durch die Propaganda der russischen Medien aufgekommen ist. Das spiele aber keine Rolle mehr.
Victoria: «Die meisten, die in der Ukraine leben wollen, haben das Krisengebiet verlassen. In Kiew sind immer mehr Lugansk- und Donezk-Nummernschilder zu sehen. Der Pro-Ukrainische-Bevölkerungsanteil in der Ostukraine wird deshalb immer kleiner.»
Das Gegenbeispiel zu Victor und Victoria ist Unternehmer Pasha. Seine Muttersprache ist Russisch. Doch für ihn scheint es nicht infrage zu kommen, die Ostukraine an Russland abzutreten. Und das, obwohl seine Firma wegen des Konflikts schwierige Zeiten durchlebt. «Meine Muttersprache ist Russisch, aber ich fühle mich voll und ganz als Ukrainer», sagt der Familienvater bestimmt.
Daniel, der auf dem Beifahrersitz hockt, scheint bewusst zu schweigen, als Pasha seinen Patriotismus kundtut. Der Student ist wie ich per Autostopp unterwegs und will eine kontroverse Diskussion mit unserem Fahrer offensichtlich vermeiden.
Einen Tag später, als ich Daniel in Odessa auf ein Bier treffe, spreche ich ihn darauf an. Er sagt: «Ich habe russische Wurzeln und fühle mich als Russe. Aber für mich ist es nicht so wichtig, ob die Stadt, in der ich lebe, zu Russland oder zur Ukraine gehört.» So hätten bis vor wenigen Monaten viele Menschen gedacht. «Doch dann haben die russische und die ukrainische Regierung über die Medien ihre nationalistische Propaganda lanciert, um die Menschen gegeneinander aufzuhetzen», sagt der 19-Jährige.
Eine Lösung ist nicht in Sicht: Russland unterstützt die Separatisten nach wie vor und die ukrainische Regierung stockt ihre Truppen weiter auf.
Im Café in Odessa bekomme ich davon nichts mit – hier schlendern die Menschen hübsch herausgeputzt an mir vorbei, ein kleines Mädchen bekommt einen Hello-Kitty-Ballon geschenkt, ein anderes darf auf einem Pony reiten. Der Krieg scheint weit, weit weg.