«Wie viel zahlt ihr?», will der gepflegte Mann am Steuer wissen. «Nichts», antworte ich verlegen und erkläre, dass meine Freundin Lea und ich «a dedo» («mit dem Finger») reisen – ohne zu bezahlen. Der junge Peruaner schaut uns durch seine Brillengläser skeptisch an, denkt kurz nach und sagt dann wenig enthusiastisch: «Okay, steigt ein.»
Unser Fahrer heisst Nestor. Und als er erfährt, dass wir aus der Schweiz kommen, fragt er vorwurfsvoll: «Wieso wollt ihr nichts bezahlen? Ihr kommt doch aus Europa und habt mehr Geld als die meisten Peruaner.» «Ja, wir haben Geld», antworte ich, «aber wir nehmen nie Busse oder Taxis, weil wir die Menschen vor Ort besser kennenlernen wollen. Wenn man für den Transport bezahlt, ist der Kontakt zu den Fahrern mehr geschäftlich und weniger persönlich.»
Des Weiteren erkläre ich Nestor, dass das Reisen per Autostopp in vielen Ländern ein Teil der Kultur sei und die Menschen wüssten, dass wir kostenlos mitfahren wollen. Doch auch das überzeugt den 32-Jährigen nicht: «Hier in Peru ist das aber anders. Ihr seid in einem armen Land und für viele ist es unverständlich, dass ihr als Touristen gratis mitfahren wollt.»
Nestor hat recht: Trampen, wie wir es in Europa kennen, ist in Ländern wie Peru und Bolivien unbekannt. Es stehen zwar sehr viele Einheimische mit den Armen winkend am Strassenrand, aber nur, um eines der unzähligen Sammeltaxis oder Minibusse anzuhalten. Manchmal werden sie auch von Privatautos mitgenommen – gegen Bezahlung.
Wenn wir den Daumen in den Wind halten, halten ebenfalls zahlreiche Privatautos. Doch wenn wir den Fahrern sagen, dass wir gratis mitfahren wollen, schütteln die meisten den Kopf und fahren weiter. Nestor und unsere anderen Fahrer sind Ausnahmen. Einzig bei Lastwagenfahrern ist Geld meist kein Thema.
Trampen macht in Peru und Bolivien deshalb deutlich weniger Spass als in anderen Ländern. Die Wartezeiten sind länger. Es ist ermüdend, ständig das Autostopp-Prinzip erklären zu müssen. Und man fühlt sich als Schmarotzer, wenn man darauf besteht, gratis mitzufahren – zumal eine Strecke von mehreren hundert Kilometern nur ein paar wenige Franken kostet.
Der Spassfaktor ist das Eine. Das Andere ist die Frage, ob es überhaupt legitim ist, dass wir als reiche Schweizer in armen Ländern gratis mitfahren wollen. Ich sage: Ja. Schliesslich kann jeder selbst entscheiden, ob er uns kostenlos mitnehmen will. Niemand wird dazu gezwungen.
Zudem entsteht beim Autostöppeln eine einzigartige Situation: Für einmal sind wir nämlich nicht die reichen Europäer, die sich alles leisten können und in komfortablen, teuren Privatbussen oder Taxis durch das arme Land kurven. Stattdessen begegnen uns die Einheimischen auf Augenhöhe. Oder mehr noch: Wir sind die unterwürfigen Bittsteller, die auf einen Gefallen hoffen.
Bei Nestor im Auto ist diese ungewohnte Rollenverteilung offensichtlich. Der Anwalt lässt uns zu Beginn spüren, dass er es alles andere als selbstverständlich findet, dass er uns kostenlos mitgenommen hat. Oberlehrerhaft fragt er uns: «Wisst ihr, wieso ich euch geholfen habe? Weil Hilfsbereitschaft in der Quechua-Kultur einen hohen Stellenwert hat.»
Es folgen Erläuterungen über die Kultur und Sprache des Quechua-Volkes, seine Arbeit als Anwalt für den peruanischen Staat und seine unbezahlte Tätigkeit als Radiomoderator. Er versucht, der indigenen Landbevölkerung die Gesetze zu erklären – auf Quechua.
Wir hören Nestor interessiert zu. Er schätzt die Aufmerksamkeit, steigt langsam von seinem hohen Ross herunter und wird von Minute zu Minute sympathischer. Er fragt uns nach unserer Meinung und will mehr wissen über die Schweiz und das Leben in Europa.
Als sich unsere Wege nach einer halben Stunde trennen, sage ich zu Nestor: «Siehst du, genau solche Begegnungen sind der Grund, wieso wir nicht mit Bussen oder Taxis reisen.» Er erwidert nichts, grinst aber, als wir uns zum Abschied die Hände schütteln. Er hat das Autostopp-Prinzip verstanden.
Nur weil das hier in Europa so teilweise funktioniert heisst das nicht, dass die Leute in Südamerika das toll finden müssen. Und wenn ich den Artikel hier so lese klingt das für mich so als wollt ihr den Leuten das aufzwingen.
Die paar Franken tun uns nicht weh. Ganz ehrlich: Schmarotzer ist der passendste Ausdruck.