Ich weiss, Ostern ist vorbei. Doch hier im katholischen Kolumbien ist die «Semana Santa» ein so grosses Ding, dass mich das Thema nach wie vor beschäftigt. Auch in vielen Schweizer Haushalten dürfte Ostern noch nicht ganz abgeschlossen sein. Bestimmt liegen noch ein paar unvertätschte Eier und unversehrte Schoggihasen in den Stuben.
So war das zumindest, als ich klein war. Damals reichte mein Schoggihasen-Reservoir jeweils fast bis Weihnachten. Und meine drei Schwestern waren neidisch, weil ich von meinem Götti immer den grössten Hasen geschenkt bekommen habe. Danke, lieber Götti!
In Kolumbien sehen österliche Kindheitserinnerungen anders aus. Zumindest wird das bei einem kleinen unschuldigen Mädchen im Engelskostüm so sein, das wir diese Woche beobachteten. Das Engelchen mit den pechschwarzen Haaren war Teil einer Osterzeremonie, zu der es so gar nicht passte: brutal, blutig – und alles andere als unschuldig.
Wir befinden uns in Mongui, einem kleinen kolumbianischen Bergdörfchen auf 2900 Metern über Meer. Die Gassen Monguis sind dunkel, nur das beeindruckende Franziskanerkloster auf dem Dorfplatz ist beleuchtet. Die Scheinwerfer sowie die Augen der Zuschauer sind auf einen jungen Mann mit langem Haar und nacktem Oberkörper gerichtet. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt, sein weisser Rock von Blut getränkt und sein Rücken von Peitschenhieben gezeichnet.
Es ist Jesus, der hier auf der kolonialen Plaza von Mongui so übel zugerichtet wird. Das Blut ist zwar nicht echt, aber die Laiendarsteller haben sich grosse Mühe gegeben, um den Schein zu wahren. Und die Peitsche zischt und klatscht in der Stille der Nacht so klangvoll, dass man den Schmerz geradezu spürt. Begleitet werden die Schläge von dramatischer Musik, die ein Orchester auf der anderen Seite des Platzes beisteuert.
Die Peiniger des kolumbianischen Jesus' sind drei römische Soldaten. Ihre Quälerei will und will nicht enden. Den Höhepunkt sparen sie sich aber bis zum Schluss auf: Sie beladen ihr Opfer mit einem grossen Holzkreuz und jagen das Häufchen Elend unter Beschimpfungen und weiteren Peitschenhieben durch das Dorf.
Am Ende muss sich der bemitleidenswerte junge Mann eine steile Treppe hochkämpfen. Er ächzt und stöhnt unter den Schlägen sowie der Last des Kreuzes. Wahrscheinlich bemerkt er nicht einmal, dass ein paar Meter neben ihm, im Hintergrund, jemand mitläuft, der es gut mit ihm meint: Das kleine Mädchen im Engelskostüm.
Ja, ich weiss, ist ja alles nur Theater. Als die Schauspieler das Ende der Treppe erreicht haben und von den meisten Zuschauern nicht mehr gesehen werden können, klatschen sich Jesus und die Römer denn auch freundschaftlich ab – um dann einen Holz-Jesus ans Kreuz zu nageln. Wir kriegen das Treiben hinter den Kulissen mit, weil wir mittlerweile auf dem Balkon unseres Hotels stehen.
Auch das kleine Mädchen im Engelskostüm sieht das alles. Es wird von der brutalen, blutigen Zeremonie deshalb keinen Schaden davontragen. Aber ihre Kindheitserinnerungen an Ostern werden weniger friedlich sein als meine.
Oder anders gesagt: Ich bevorzuge Schoggihasen – auch wenn ich zugeben muss, dass ich als Kind kaum wusste, wieso ich die Dinger eigentlich geschenkt bekommen habe. Es war mir aber auch herzlich egal, Hauptsache Schoggi!