So viel wiegt mein Rucksack, mein einziger Besitz für die nächsten ein bis zwei Jahre. Damit verlasse ich meine Wohnung in Winterthur und mache mich auf Richtung Stadtrand.
In meinem Kopf rasen die Gedanken. Ich denke an das rauschende Fest vom Samstag, mit dem ich mich von meinen Freunden verabschiedet habe. Ich denke an die Eltern, die drei Schwestern sowie den zwei Woche alten Neffen. Ihnen allen habe ich am Sonntag unter Tränen Lebewohl gesagt.
Und ich denke daran, wie unwirklich es war, als sich vor wenigen Stunden die Türe des Wohnungslifts hinter meiner Freundin geschlossen hat, weil sie wie jeden Montag zur Arbeit musste. Ich muss nicht mehr arbeiten. Nicht heute. Nicht morgen. Nicht die nächsten ein bis zwei Jahre.
Ich habe gekündigt, das WG-Zimmer aufgegeben und das Auto verkauft, um mir einen langersehnten Traum zu erfüllen: Per Autostopp um die Welt zu reisen. Ohne Flugzeug, ohne Zug, ohne Bus. Einzig Schiffe sind erlaubt, wenn es nicht anders geht.
Nicht, weil ich knausrig oder knapp bei Kasse bin. Sondern weil man mit Trampen die Einheimischen am besten kennenlernt. Es die spannendste Form des Reisens. Jedes Auto, das einen mitnimmt, eröffnet eine neue, unbekannte Welt.
Man weiss nie, wer am Steuer sitzt. Und ob man nur ein paar Kilometer bis ins nächste Dorf mitgenommen wird oder mehrere hundert Kilometer mitfahren kann, den Fahrer besser kennenlernt, noch eins trinken geht oder gar beim Fahrer übernachten darf.
Ich bin extrem nervös, als ich am Montagnachmittag um 14.28 Uhr an der Strasse stehe, die durchs Tösstal nach Rapperswil führt, und den Daumen gegen den Wind halte. Was, wenn es aus irgendwelchen Gründen nicht klappt? Was, wenn sich die dummen Sprüche meiner Freunde bewahrheiten, wonach die Schweizer von Autostopp nichts wissen wollen und ich am Abend immer noch hier stehe?
Bereits nach wenigen Minuten – mein Smartphone zeigt 14.34 Uhr – werde ich von Fabian erlöst. Er hält an und ich öffne die Tür auf der Beifahrerseite. «Richtung Rapperswil?», frage ich. «Ja, bis nach Bauma», antwortet er.
Fabian ist geschätzte 25 bis 30 Jahre alt und absolviert eine Zweitausbildung zum Behindertenbetreuer. Am Morgen hatte er eine Prüfung, jetzt ist der auf dem Heimweg. Für ihn ist die rund 20 Kilometer lange Fahrt nach Bauma Routine. Für mich ist sie der Aufbruch zu meinem grossen Abenteuer.
An der Tankstelle lässt er mich raus. Ich nehme meinen Rucksack vom Rücksitz und suche mir wieder ein Plätzchen, wo mich die Autofahrer früh sehen und gut rechts ranfahren können. Es geht Schlag auf Schlag:
Die beiden Coop-Verkäuferinnen Christine und Emanuela nehmen mich mit bis nach Wald.
Ein älterer Herr, dessen Name ich nicht kenne, weiter nach Rüti.
Von dort im Cabrio des gut gelaunten Rentners Hans nach Schmerikon.
Dann mit Dreifach-Papa Peter nach Mels.
Mit Dimitri und seiner Frau nach Landquart.
Von dort mit Yannick nach Davos.
Um 19 Uhr sitzen wir dort in einer Kneipe und stossen auf meinen erfolgreichen ersten Reisetag an. In den folgenden Tagen geht es im gleichen Stil weiter. Über Flüela- und Ofenpass gelange ich ins Südtirol. Dort nehme ich den Jaufenpass nach Sterzing. Meist warte ich nur fünf bis zehn Minuten, bis mich jemand mitnimmt.
15 Minuten vergehen. Eine halbe Stunde. Die Sonne brennt mir auf den Kopf, während unzählige Autos vorbeirauschen. Dann endlich, nach etwa 40 Minuten, hält ein Auto mit deutschen Nummernschildern. Ich will die Beifahrertür öffnen. Doch der Fahrer wedelt mit den Händen und gibt mir zu verstehen, dass er nicht die Absicht hat, mich mitzunehmen – er will lediglich einen Blick auf die Strassenkarte werfen.
Weitere 10 Minuten vergehen und mein Daumen schmerzt langsam. Dann hält plötzlich ein schickes Cabrio, ein junger Mann mit Sonnenbrille fragt mich in typischem Südtiroler Dialekt: «Wohin soll's gehen?» «Nach Innsbruck», sage ich. «Ich gehe nur bis zu Grenze, aber bis dahin kannst du gerne mitkommen.«
Wir kommen ins Gespräch, nach wenigen Minuten sagt er: «Weisst du was, ich fahre dich gleich nach Innsbruck. Ich hab heute frei.» In Innsbruck angekommen, gehen wir ein Bierchen trinken. Und noch eins. Und noch eins. Irgendwann ist klar, dass Benjamin nicht mehr nach Hause fahren kann. Wir teilen uns ein Zimmer in einer Jugendherberge und ziehen bis morgens um fünf um die Häuser. Dabei wollte er mich doch eigentlich nur bis an die Grenze mitnehmen …