Die indische Pilgerstadt Varanasi ist eine der verrücktesten religiösen Stätten überhaupt. Hier prallen Volksfrömmigkeit, Aberglaube und archaische spirituelle Vorstellungen aufeinander wie vielleicht an keinem anderen Ort der Welt.
Schmelztigel sind die Ghats, die Treppenstufen entlang des heiligen Flusses Ganges, wie ich schon auf meiner ersten Joggingrunde erlebe. Nach wenigen hundert Metern komme ich an einer der beiden Verbrennungsstätten vorbei. Mein Blick fällt aus einer Distanz von vielleicht zehn Metern auf einen Totenschädel, der dem lodernden Feuer trotzt.
Das ist nicht pietätlos, denn an dieser Stelle gibt es nur eine schmale Plattform, ein Ausweichen ist unmöglich. Die Trauergäste nehmen keine Notiz von mir, Verbrennungen gehören hier zum Alltag.
Kinder lassen direkt daneben Drachen steigen oder spielen Federball, Kühe schreiten zwischen den Feuerstapeln umher und fressen die Blumen, die den Toten geweiht sind. So gehört der Tod zum natürlichen Kreislauf des Lebens. Der enge Kontakt zu den Verstorbenen erlaubt einen fassbaren Abschied.
Auf der anderen Seite ist der Rahmen der Feuerbestattung unter freiem Himmel gespickt mit abergläubischen und frauenverachtenden Vorstellungen, sind doch weibliche Trauernde ausgeschlossen.
Die kuriose Begründung: Sie würden bei der Verbrennung ihrer Angehörigen weinen, was die Seelen der Verstorbenen mit Wehmut erfülle und ans Diesseits binde. Oder eben daran hindere, die Reise ins Jenseits ohne Reue anzutreten.
Leichenverbrennungen sind also nur etwas für harte Männer, die keine Emotionen zeigen. Die Trauer muss versteckt werden.
Dies zeigt sich auch, wenn die männlichen Angehörigen die in Goldfolie eingehüllte Leiche auf einer Bambusbahre durch die engen Gässchen zur Verbrennungsstätte tragen und ununterbrochen ein Mantra wiederholen, das eher wie ein Schlachtruf denn ein Trauergesang klingt.
Eigenartig mutet auch an, dass nicht alle verstorbenen Hindus verbrannt werden. Die Sadhus, die Bettelmönche, sind schon heilig und müssen nicht durch das Feuer gereinigt werden. Das gleiche gilt auch für kleine Kinder, die noch unschuldig sind. Und für schwangere Frauen.
Seltsam wirkt auch, dass Personen, die eines unnatürlichen Todes gestorben sind, nicht am heiligen Ufer verbrannt werden. Das trifft zum Beispiel für Personen zu, die von einer giftigen Schlange gebissen wurden.
Die Reinen oder Schuldfreien bekommen ein letztes Bad. Sie werden oft mit einem Stein beschwert und im heiligen Fluss versenkt. Das mag aus religiöser Sicht erklärbar sein, aus Umweltschutzgründen ist es eine Todsünde.
Denn im ohnehin mit Quecksilber und anderen Giften verseuchten Fluss baden die Pilger ausgiebig und tauchen auch mit dem Kopf unter das Wasser. Verwesende Wasserleichen dürften die Wasserqualität kaum positiv beeinflussen.
Täglich werden 100 oder mehr Leichen verbrannt, rund um die Uhr, denn sie müssen innerhalb von 24 Stunden kremiert werden. Alte Leute aus entfernteren Gegenden oft werden in schreckliche Hospize in Varanasi abgeschoben, wo sie dahinsiechen, nur um schliesslich am Ganges verbrannt werden zu können. Alles nur wegen eines Aberglaubens.
Gemeinsam mit dem Hartholz wird Sandelholz verfeuert. Es erzeugt kaum Rauch und neutralisiert den Geruch verbrannten Menschenfleisches. Und es beschleicht mich der Gedanke, dass vielleicht schon mancher Inder lebend kremiert wurde, weil er im Koma lag.
Auf meinem weiteren Weg dem Ganges entlang stoppt mich ein Hindupriester. Er legt mir seine Hand auf den Kopf und ruft Hanuman an, den Affengott. Dieser bringe mir Glück und beschütze mich auf meiner Reise, auf dass ich im Zug, Bus oder Flugzeug keinen Unfall erleide. Schliesslich segnet er mich mit Monkey-Power, wie er feierlich erklärt.
Den Affen, die auf dem nahen Tempel herumtollen, ist die priesterliche Weihe schnuppe. Mir letztlich auch, denn Unfälle hängen primär von Menschen und Maschinen ab und nicht von eingebildeten Göttern. Das sage ich dem rührigen Priester natürlich nicht, der für seinen Segen einen happigen Obolus verlangt.
Auf Schritt und Tritt verfolgen mich Lingams. Der Phallus ist das Symbol der Gottheit Shiva, der auch der Gott der Zeugungskraft ist. Die Männer beten am heiligen Fluss unter anderem zu ihm, auf dass er die männliche Kraft nicht erlahmen lasse.
Und die Frauen hoffen, dass ihr Mann durch das Gebet seine Zeugungsfähigkeit nicht verliert. Denn eine Frau, die keine Kinder bekommt, kann verstossen werden. Dass dabei die Schuld auch beim Mann liegen kann, hat im machohaften Weltbild der indischen Männer keinen Platz. Wie auch immer: Die Huldigung des Lingams ist ein weiteres Beispiel aus dem indischen Kosmos des Aberglaubens.
In einem Punkt ist der Hinduismus den monotheistisches Religion aber deutlich überlegen. Während der christliche Glaube das Reine, Weisse und Helle verklärt und zelebriert, integriert der Hinduismus das Böse, Zerstörerische und Dunkle ebenfalls in den Glauben. So ist beispielsweise Shiva nicht nur der Gott der Schöpfung, sondern auch der Zerstörung.
Damit ist der Hinduismus in diesem Punkt nah am realen Leben, das schliesslich stark von Widersprüchen und vom Bösen geprägt ist.