Demut, Achtsamkeit, Harmonie und Liebe sind die zentralen Attribute der esoterischen und spirituellen Heilsvorstellungen. Zuoberst auf dem übersinnlichen Olymp steht meist die Liebe. Die Besonderheit bei ihr: Sie muss möglichst bedingungslos sein, wie viele spirituelle Meister verkünden.
Spätestens hier läuten bei mir die Alarmglocken. Bedingungslos bedeutet, dass man sich absolut und ohne Einschränkungen hingeben soll. Ohne Fragen und ohne Einschränkungen. Hingeben an den Guru, Meister oder Lehrer. Und seine esoterischen Konzepte und Dogmen.
Die grenzenlose Liebe ist meist einseitig, sie verläuft von unten, dem Fussvolk, nach oben, zum Heilsbringer. Dieser bedient sich hemmungslos der Hingabe. Er geniesst die Zuwendung, die Verehrung und die Spenden. Weiter erfreut er sich am Gehorsam, der nur allzu oft in die Abhängigkeit führt.
Sexuelle Übergriffe im esoterischen und spirituellen Milieu sind nicht selten. Besonders viele Skandale wurden in den letzten Jahren weltweit in den viel gepriesenen Yogaschulen bekannt. Auch in hinduistischen Ashrams vergreifen sich immer wieder die angeblich zölibatär lebenden Gurus an westlichen Besucherinnen. Mir sind auch viele Beispiele von Schweizer Handauflegern, Geistheilern und esoterischen Coachs bekannt, die ihre Kundinnen missbraucht haben.
Viele Schülerinnen berichten von sexuellen Übergriffen des indischen Gurus Sai Baba, von Ramesh Balsekar, Swami Vivekananda Saraswati, Swami Vishnudevananda, dem Yogalehrer Bikram Choudhury, dem Guru Sri Pattabhi Jois, dem Lehrer der Hindu-Sekte Bhakti Marga, Vishwananda usw.
Wo bedingungslose Liebe gefordert wird, versteckt sich meist der Narzissmus, gepaart mit einem ausgeprägten Machtanspruch. Die spirituellen Sucher brauchen einen Meister, der angeblich Hüter des geheimen Wissens ist und seinen Anhänger exklusiv den Pfad zur Erleuchtung weisen kann.
Eine verhängnisvolle Dynamik, weil sie ein starkes Autoritätsgefälle erzeugt. Denn das vermeintliche Heil ist gekoppelt an eine Unterordnung. Die Adepten verlieren oft die geistige Autonomie und müssen kritische Fragen und Beobachtungen unterdrücken. Schliesslich tappen sie noch in der Dunkelheit und finden ohne ihren Geistführer den Weg ins Licht nicht, wird ihnen weisgemacht.
Ein weiterer Fallstrick ist der Absolutheitsanspruch vieler Meister. Selbstzweifel kennen die wenigsten, schliesslich empfangen sie ihre spirituellen «Wahrheiten» angeblich von aufgestiegenen Meistern, also den kosmischen Instanzen des göttlichen Alleineins.
Somit entziehen sich die Gurus der Verantwortung. Geht etwas schief, was mehr die Regel als die Ausnahme ist, können sie die Schuld auf die himmlischen Einflüsterer abschieben.
Das Absolute und Bedingungslose führt oft dazu, dass spirituelle Sucher in eine spirituelle Parallelwelt abrutschen. Ihr einziges Lebensziel ist die Erlösung oder Erleuchtung. Das Irdische wird belanglos, die Existenzsicherung zur Last.
Diese Entfremdung kann fatale Folgen haben, wie ich immer wieder erlebe. Verzweifelte Väter berichten mir regelmässig, dass ihre Ehefrau den Haushalt und die Kinder vernachlässigten, weil sie stundenlang vor ihrem Altar meditieren, wochenweise Seminare und Workshops besuchen, esoterische Bücher lesen und Videos ihres Gurus schauen würden. Somit sind eheliche Konflikte vorprogrammiert.
Der Widerstand des Ehepartners gefällt den spirituellen Meistern meist nicht. Sie befürchten, dass sich ihre Anhängerin für die Familie und somit gegen ihn entscheiden könnte. Nicht selten verlangen sie die Trennung vom Ehepartner.
Dabei benutzen sie gern spirituelle Argumente, um nicht selbst die Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie behaupten, ihr Ehemann würde sie mit seinen kritischen Einwänden auf ihrem Weg zur Erleuchtung blockieren, was natürlich total verhängnisvoll sei. So gehen viele Ehe in die Brüche und Familien brechen auseinander, obwohl die Beziehung stabil gewesen war.
Für den Guru hat eine Trennung einen weiteren Vorteil. Er kann seiner Anhängerin weismachen, dass eine intime Vereinigung mit ihm ihre spirituelle Entwicklung zusätzlich fördern würde. Sein «heiliger Samen» wirke als übersinnlicher Katalisator.
Das klingt alles ein wenig unwahrscheinlich und verrückt. Es ist aber sehr wahrscheinlich und wirklich verrückt, denn ich kenne nur allzu viele Beispiele sexueller Ausbeutung im esoterischen Milieu. Denn die meisten spirituellen Meister sind Männer und rund 75 Prozent der esoterischen Sucher:innen Frauen.
Spiritualität und Sexualität haben mehr gemein als den ersten Buchstaben.